Als gaebe es kein Gestern
gefällt. Hier war alles wie überall. Die Menschen spielten einander etwas vor.
„Oh“, machte die junge Frau und musterte Livia mit großen Augen. „Wie … wie geht es Ihnen nach Ihrem Unfall?“
Furchtbar , wollte Livia sagen, hatte aber nicht die Kraft dazu. „Danke, gut“, presste sie hervor. Ihr Blick war auf die vielen Menschen gerichtet. Sie fühlte sich wie in einem Rudel Wölfe.
„Dann hoffe ich, dass Sie sich bei uns wohlfühlen“, lächelte die Frau.
Livia konnte noch nicken, dann hatte Arvin sie bereits weitergezogen. Er steuerte direkt auf eine dunkelbraune Tür zu, die in einen weiteren Raum zu führen schien. Am Eingang drückte ihm jemand ein Gesangbuch in die Hand, dann betraten sie einen riesigen Saal, der bereits zu zwei Dritteln mit Menschen gefüllt war. Hier fanden bestimmt dreihundert Menschen Platz!
Arvin steuerte mit Livia auf einen Platz in der hintersten Reihe des Saales zu, platzierte sie auf einem der Stühle und setzte sich neben sie.
Livia erlebte das alles wie durch einen Schleier hindurch. Arvins Verhalten war zweitrangig. Ihr Blick war einzig und allein auf die Menschen gerichtet, ihr Herz raste. Wäre sie doch nur zu Hause geblieben!
„Ich möchte vorne sitzen“, raunte sie Arvin mit letzter Kraft zu. „Da seh ich die vielen Menschen nicht!“
„Tu dir keinen Zwang an“, antwortete Arvin kalt.
Aber Livias Füße waren wie festgewachsen. Sie hatte keine Kontrolle mehr über sie.
„Bring mich hin!“, flehte sie leise.
Aber Arvin lachte auf. „Das könnte dir so passen! Erst zwingst du mich, dich mitzunehmen, und dann kommandierst du mich herum? Vergiss es!“
Livia konnte nichts mehr dazu sagen. Ihr Blick war auf eine Menschentraube geheftet, die in diesem Moment geschlossen auf sie und Arvin zukam.
„Mensch, Arvin, das finde ich aber toll, dass du uns deine Frau mitgebracht hast“, rief der Mann, der vorneweg lief, schon von Weitem. Er war bestimmt schon an die siebzig, hatte aber eine extrem jugendliche Ausstrahlung. Als er dann allerdings Livias Hand schüttelte, stutzte er. „Sie haben eiskalte Finger. Geht es Ihnen nicht gut?“
Die Frage wurde vom Geplapper der übrigen Leute übertönt, die ebenfalls eine Bemerkung zu Livia machten und ihr neugierig die Hände entgegenstreckten.
„Bring mich hier raus!“, flüsterte Livia Arvin zu. „Bitte!“ Vor ihren Augen zog ein dunkler Schleier auf. Die ältere Dame, die ihr gerade jetzt die Hand schüttelte, war kaum noch zu erkennen.
Und dann sah sie gar nichts mehr …
❧
Als Livia die Augen aufschlug, sah sie als Erstes Karen.
„Was … wo …?“ Livias Stimme klang rauchig und belegt.
„Im Krankenhaus“, beantwortete Karen die nicht wirklich gestellte Frage. Sie saß neben Livia auf einem der Krankenbetten und hielt ihre Hand. „Arvin hat dich hergebracht. Du hast ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt.“
Livia räusperte sich. „Womit?“, krächzte sie. „Nein, sag nichts, ich weiß schon. Er hat gehofft, dass er mich endlich loswird. Dass ich nur bewusstlos war, muss ein schlimmer Schock für ihn gewesen sein.“
„Jetzt hör aber auf“, schimpfte Karen und ließ Livias Hand los. „Arvin ist nicht so furchtbar, wie du immer denkst. Außerdem hat er dich höchstpersönlich hierhergebracht.“
„Das schlechte Gewissen“, behauptete Livia und setzte sich vorsichtig auf. „Schließlich war er schuld daran, dass mein Kreislauf versagt hat.“ Auf ihrem Nachttisch erblickte Livia ein Glas mit Wasser. Sie griff danach.
„Was soll das denn heißen?“
Livia trank das gesamte Glas leer, bevor sie antworten konnte. Das kühle, kohlensäurearme Wasser war wie Balsam für ihren ausgetrockneten Hals. „Die vielen Menschen“, sagte Livia. „Er hat mich ihnen zum Fraß vorgeworfen!“
„Hast du ihm denn gesagt, dass du Probleme mit Menschenansammlungen hast?
„Das nicht. Aber ich hab ihn quasi angefleht, mich wieder rauszubringen … oder wenigstens mit mir nach vorne, in die erste Reihe, zu kommen. Aber natürlich hat es ihn nicht interessiert.“
„Vielleicht war ihm das Ausmaß deines Problems nicht wirklich bewusst“, gab Karen zu bedenken. Sie erhob sich und durchwanderte nachdenklich den Raum. Am Fenster blieb sie stehen und blickte hinaus. „Als er hier ankam, war er jedenfalls völlig aufgelöst. So hab ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.“
Livia verschränkte die Arme vor der Brust. „War jemand bei ihm?“, fragte sie kalt.
„Ja, ein Freund von uns.“
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