Als ich lernte zu fliegen
Tagesablauf, wenn ich gefragt werde, und versuche die größtenteils irrelevanten Dinge für mich zu behalten, weil sich niemand für alle Einzelheiten interessiert. Aber ich bin anders, ich bin besonders, und meine Mum hat mir beigebracht, dass besondere Menschen die Verantwortung haben, anderen etwas über sich mitzuteilen. Der Dokumentarfilm, an dem ich mitwirke, soll anderen nicht-neurotypischen Menschen eine Hilfe sein, damit sie in der Schule nicht mehr gemobbt werden. Oder missverstanden. Oder damit sie sich nicht mit kleinen Schnitten an Armen oder Beinen verletzen, um schmerzlindernde Endorphine freizusetzen, weil sie an Depression leiden. Nicht-neurotypische Personen leiden oft an Depressionen; da habe ich Glück. Ich bin zwar nicht oft sehr glücklich, aber auch nicht oft sehr traurig. Nicht einmal, wenn andere meinen, ich sollte traurig sein, zum Beispiel als Mum gestorben ist.
Als er ein guter Junge war
»Du bist ein guter Junge«, hatte Asifs Mutter zu ihm gesagt, bevor sie starb. Beinahe ihre letzten Worte, beiläufig dahingesagt, bevor sie ihn bat, den Arzt zu holen, da es ihr wieder so unangenehm eng um die Brust zu werden begann. Asif ließ sie in Obhut der Krankenschwester zurück, und als er wiederkam, war sie nicht mehr. Eine schöne Gestalt unter frischen weißen Leintüchern, ihr dickes, leicht gewelltes Haar hinter ihr ausgebreitet wie ein Fächer. Vollendet. Ihre Herzschwäche war aus dem Nichts gekommen; bis zum Vormittag, als sie starb, galt sie als augenscheinlich gesunde Frau Anfang vierzig, die diszipliniert auf sich achtete und auch alles andere in ihrem Leben fest im Griff hatte. Erst im Nachhinein wurde entdeckt, wie erschöpft und schwach ihr Herzmuskel war, wie verengt ihre Arterien, als hätte ihr Herz länger gelebt als sie selbst und viel zu schwer arbeiten müssen. Falls sie je Symptome gespürt hatte, so hatte sie nie darüber geklagt, hatte nie daran gezweifelt, dass sie auch weiter alles unter Kontrolle behalten könnte; sogar ihr überlastetes Herz, das in zu viele Richtungen gezerrt wurde, bis es zu müde und zu bedrängt war, um weiterzuschlagen.
Asifs Mutter hatte nicht damit gerechnet, dass sie an diesem Tag sterben würde, deshalb hätte man erwarten können, Asif sähe ihr nach, dass sie ihrem letzten gemeinsamen Moment kein besonderes Gewicht gab, dass sie nichts Feierliches, Aufbauendes sagte, nicht von ihrem Sohn Abschied nahm. Aber es fiel ihm nicht nur schwer, seiner Mutter ihren plötzlichen Tod zu verzeihen, auch durch die beiläufige Art ihres Auseinandergehens fühlte er sich betrogen. Warum musste sie ihn ausgerechnet einen guten Jungen nennen? War das das Beste, was sie über ihn zu sagen wusste, ihr letztes Geschenk, das sie ihm hinterließ? Wie verklemmt, wie kleinkariert – als wäre er ein Hund, der gerade schwanzwedelnd einen Stock apportiert hatte, und nicht ihr einziger Sohn, der sie in überstürzter Hast ins Krankenhaus gebracht hatte, während seine jüngeren Schwestern nichtsahnend in der Schule saßen. Warum hat sie nicht gesagt, nie gesagt, ich liebe dich? Ich liebe dich, mein Sohn. Ich liebe dich, Asif. Das sagen sie im Film, im Fernsehen, in den Büchern doch die ganze Zeit! Wie war es möglich, dass sie für ihren Sohn nicht die richtigen Worte fand, als er zum Arzt eilte, weil ihr Herz sich zusammenzog, kurz davor, den Dienst zu verweigern?
Asif konnte sich nicht erinnern, dass seine Mutter ihn ihre Liebe schon einmal hatte spüren lassen, auch wenn er sicher war, dass sie ihn früher geliebt hatte. Aber das war so lange her, dass es ihm wie ein Mythos erschien, wie ein Märchen aus einer Zeit vor der Ankunft seiner Schwestern. Er brauchte nur die Fotos von sich anzusehen, das wunderschöne Baby allein mit seinen Eltern, um zu wissen, wie sehr er geliebt worden war. Ihm war zwar keine Erinnerung daran geblieben, trotzdem hätte er wenigstens die Worte gern gehört, auch wenn sie nichts weiter gewesen wären als Worte. Denn manchmal sind Worte genauso wichtig wie die Dinge, die sie zu benennen versuchen; manchmal sind Worte genauso real.
Sosehr Asif es auch hasste, ein guter Junge genannt zu werden, in den Tagen und Monaten nach dem Tod seiner Mutter sollte er es noch oft zu hören bekommen. Natürlich hatte seine Mutter, die lebenslang und darüber hinaus alles kontrolliert und organisiert hatte, auch für den Fall ihres Todes Vorkehrungen für ihre Kinder getroffen und im Lauf der Jahre immer
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