Als ich lernte zu fliegen
kommunizieren und ein normales Leben führen können.«
»Normal? Seit die Diagnose gestellt wurde, ist in Yasmins Leben nichts mehr normal«, bricht es aus Lila heraus. »Sie war schon immer ein schwieriges Kind, aber dann wurde sie plötzlich so verdammt anders, so verdammt besonders, nur weil sie ein paar Musik- und Gedächtnistricks beherrscht und behauptet, sie hätte die ganze Welt in ihrem Kopf.« Lila beruhigt sich etwas und fügt hinzu: »Das Projekt ist unverantwortlich, weil Yasmin gar nicht anders, gar nichts Besonderes ist; sie wurde nur ihr Leben lang nach Strich und Faden verwöhnt, weil die Leute ein falsches Bild von ihr haben.«
Henry appelliert an Lilas Vernunft: »Dann glauben Sie also, dass Yasmins Diagnose nicht stimmt? Wurde sie inzwischen nicht von zahllosen Fachärzten untersucht? Und glauben Sie wirklich, dass Yasmin ihre Art, die Welt zu sehen, nur erfindet? Dazu bräuchte sie eine unglaublich lebhafte Fantasie, was bei jemandem aus dem Autismusspektrum an und für sich schon faszinierend wäre. Und was ist mit ihren großartigen Gedächtnisleistungen? Die sind doch mehr als bloße Tricks …«
»Es lässt sich physiologisch nicht beweisen, dass Yasmin überhaupt Autistin ist; diese Diagnose haben nur ein paar Quacksalber aus dem Ärmel geschüttelt, als Erklärung, warum sie als Kind die ganze Zeit so ein grauenhaftes, kreischendes Monster war. Die Inselbegabung, das Savant-Syndrom, kann genauso gut durch Yasmins epileptische Anfälle in der Kindheit entstanden sein; es gibt jede Menge Fälle, bei denen nach solchen Anfällen ungewöhnliche geistige Fähigkeiten auftraten. Und wenn Sie ehrlich wären, würden Sie zugeben, dass Ihre verdammten Produzenten auf Yasmins einzigartige Weltsicht oder edelmütige Aufklärungsabsichten pfeifen würden, wäre sie keine bildschöne, dürre Neunzehnjährige …«
»Das hilft natürlich«, bestätigt Henry. »Aber Yasmin ist trotzdem eine Ausnahme; es gibt so wenig Mädchen mit Asperger, deshalb ist es sehr ungewöhnlich, jemanden zu finden, der seine Erfahrungen so klar mitteilen kann.«
»Genau! Wussten Sie, dass unter den Asperger-Betroffenen weniger als zehn Prozent Mädchen sind? Und die Chancen, ein Mädchen mit Asperger-Syndrom und Savant-Syndrom zu sein, sind lächerlich gering, und die Chancen, ein Mädchen mit Asperger-Syndrom und Savant-Syndrom zu sein und trotzdem gut kommunizieren zu können, sind winzigst, so was kann’s eigentlich gar nicht geben, verdammt nochmal! Es ist, als würde man behaupten, Mensch, der Typ ist blind, aber er sieht trotzdem was, wow, ein Wunder! Aber wissen Sie was? Wenn er was sieht, dann kann er so blind nicht sein!« Lila bemerkt, dass Henrys Lippen beben; sie ist nicht sicher, ob sie ihn tödlich beleidigt hat oder ob er ein Lächeln unterdrückt. Ihr fällt das bestürzte Schweigen an den Nachbartischen auf; nur daran merkt sie, dass sie etwas grausam Taktloses gesagt hat.
Henry schweigt eine Weile und verbirgt seinen Mund hinter seinen schmalen, blassen Fingern. Dann sagt er ruhig und mit der glühenden Überzeugung eines Menschen, der sich voll und ganz im Recht fühlt, einer Überzeugung, die andere zur Verzweiflung bringen kann: »Kann gut sein, dass die Chancen, so zu sein wie Yasmin, eins zu einer Million stehen, aber denken Sie nur daran, wie viele Millionen Menschen allein in Großbritannien leben. Denken Sie daran, die Welt ist riesengroß und es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns träumen lassen. Nur weil etwas sehr unwahrscheinlich ist, ist es noch lange nicht unmöglich.«
Da erinnert sich Lila an das erste Mal, als jemand im Zusammenhang mit Yasmin von eins zu einer Million sprach. Es war Yasmins Sprachtherapeut; Yasmin, die Statistiken liebt, war damals acht Jahre alt und griff dies mit einer ärgerlichen Selbstgefälligkeit auf: »Jemanden wie mich gibt’s nur einmal unter einer Million Menschen«, hatte sie Lila mit einem Nachdruck erklärt, den man bei jedem anderen als Hohn empfunden hätte. »Statistisch gesehen gibt es in Großbritannien nur achtundfünfzig Leute wie mich, und ich könnte jeden davon zwischen heute und dem 16 . April zum Tee treffen, aber das werde ich nicht tun, weil ich nicht weiß, wo sie wohnen, und ich fahre nicht gern von Finchley weg, wenn ich nicht muss …« So hatte sie endlos weitergeschwafelt, und Lila hätte ihr am liebsten eine geklebt, was sie natürlich nicht tat. Außer ihrem IQ hatte Yasmin nun noch eine weitere Zahl, mit der sie
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