Als ich lernte zu fliegen
haben als Yasmins Schwester einen einzigartigen Einblick. Es ist ein so faszinierendes und anspruchsvolles Projekt, wir haben uns wahnsinnig gefreut, als wir grünes Licht dafür bekommen haben, und möchten nun die richtigen Schwerpunkte setzen. Bereicherung statt Behinderung. Hoffnung statt Angst. Verständnis statt Ignoranz. Wir möchten zeigen, dass Menschen wie Yasmin ein Geschenk für uns alle sind.« Vor Empörung über diese hochtrabenden Ansagen bleibt Lila der Mund offen stehen; sie fragt sich, als was für ein Geschenk er Yasmin empfunden hätte, wenn er mit ihr hätte aufwachsen müssen, aber entweder bemerkt Henry ihre Reaktion nicht, oder er geht darüber hinweg, denn er fährt fort: »W as wir gern von Ihnen hören würden, sind Geschichten oder Anekdoten aus Ihrer gemeinsamen Kindheit mit Yasmin – ab wann es Anzeichen gab, dass sie anders war, besonders …«
»T ut mir leid«, würgt Lila ihn kurzerhand ab, sie hat genug gehört. »Ich glaube, Sie haben nicht kapiert, warum ich zu diesem Treffen bereit war. Jedenfalls nicht, um Stoff für Ihre bescheuerte Doku zu liefern; ich habe nicht die leiseste Absicht, einen Haufen rührseligen Scheiß über Yasmin abzulassen, den Sie zu einer sonnigen, fröhlichen Geschichte über Asperger verquirlen können. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich dieses Projekt für eine verdammt blöde und verdammt unverantwortliche Idee halte. Für wen halten Sie sich eigentlich, dass Sie aus einem jungen Ding wie Yasmin Kapital schlagen wollen, sie den staunenden Massen vorwerfen wollen, um die Einschaltquoten zu erhöhen …« Lila bemerkt, dass der Typ die Augen noch mehr zusammenkneift, und fährt ihn an: »Und hören Sie auf, mich so anzusehen. Das nervt total.« Sie fängt an, sich an der Innenseite des Ellbogens zu kratzen, der sie ebenfalls nervt, und kann sich nur bremsen, indem sie unter dem Tisch die Hand zwischen die Knie klemmt.
»Hm, das ist ja unangenehm«, sagt Henry.
»Unangenehm für Sie, denn ich bin nicht diejenige, die einen kaputten, verwaisten Teenager ausbeutet.« In selbstgerechter Entrüstung plustert Lila sich auf. »Außerdem habe ich Sie gebeten, nicht so komisch zu blinzeln …«
»Unangenehm für uns beide«, unterbricht Henry sie. »Sie haben vermutlich nicht bemerkt, dass ich blind bin.«
»Oh.« Einen Moment ist Lila sprachlos; sie sinkt in ihren Stuhl zurück. »Das tut mir leid.« Sie hebt die Hand und schwenkt sie probeweise vor seinem Gesicht. »Aber Ihre Augen haben sich bewegt, ganz blind sind Sie nicht, oder?«
»Nein«, räumt Henry ein, »am Rand meines Gesichtsfelds habe ich noch einen Rest Sehvermögen. Deshalb kann ich auch ohne meinen Hund zu Orten wie diesem gehen.«
»Ihren Hund«, wiederholt Lila und kommt sich ausgesprochen dämlich vor. Wieso hat sie nicht bemerkt, dass sie einen Blinden beleidigt? Sie wird schon wie Yasmin, so egozentrisch, dass sie nicht sieht, was sich vor ihrer Nase abspielt, auf der anderen Tischseite in einem gut besuchten Café. »Ohne Stock?«, fragt sie, nur um die Situation etwas aufzulockern.
»Der ist hier«, antwortet Henry und klopft auf seinen Dufflecoat. »Er ist ausziehbar.«
»Ausziehbar«, echot Lila wieder. »Sie haben recht, die Situation ist unangenehm«, stimmt sie ihm zu. Sie wartet kurz, spielt mit ihrem Teelöffel und fragt dann: »Möchten Sie noch einen Kaffee?« Sie hat bemerkt, dass seine Tasse leer ist, und möchte freundlich sein.
»Nein danke«, sagt Henry vollkommen höflich, doch ohne die Wärme und den Eifer, die er vorhin gezeigt hat. »Aber ich würde gern wissen, warum Sie diesen Dokumentarfilm für unverantwortlich halten und glauben, es ginge nur um Profit. Sie haben doch das Exposé gelesen, oder? Wir sind nicht auf Sensationen aus und wollen die Wahrheit nicht den Einschaltquoten zuliebe verfälschen. Ein solcher Film ist nie ein kommerzieller Erfolg; hier geht es um Aufrichtigkeit und darum, Anderssein respektvoll anzuerkennen und zu bejahen. Yasmin könnte Familien, die einen Sohn oder eine Tochter mit der Diagnose Asperger oder Autismus haben, Hoffnung machen. Sie könnte anderen zu einem besseren Verständnis verhelfen, wenn sie zeigt, wie sie die Welt wahrnimmt. Deshalb hat sich Yasmin auch bereit erklärt, bei diesem Projekt mitzumachen; sie möchte zeigen, dass es für jemanden wie sie möglich ist, die Alltagsschwierigkeiten zu überwinden, mit denen Menschen des autistischen Spektrums konfrontiert werden. Dass auch sie mit anderen gut
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