Als ich lernte zu fliegen
denen sie sich einfach nicht meldet. Sie hat Asif sogar schon kritisiert, weil er stets prompt und gewissenhaft zurückruft, wenn ihn jemand nicht persönlich erreicht hat. Einmal hat sie ihm sogar empfohlen, er solle alle beruflichen Anrufe im Büro erst einmal ignorieren. »Du wirst dadurch viel wichtiger«, bemerkte sie zynisch. »Die Leute müssen dir nachlaufen und nicht umgekehrt. Und wenn dich tatsächlich mal jemand erreicht, musst du so tun, als wärst du sehr beschäftigt, gestresst und schlecht gelaunt, und als würdest du dem anderen wichtige Informationen vorenthalten. Wenn du dich rar machst und unkooperativ bist, schießt dein Wert in die Höhe, das ist nun mal die Dynamik des Markts, so wirst du zum seltenen Handelsgut.« Das sagte sie auf ihre übliche trockene Art einfach so dahin, und Asif wusste nicht recht, ob sie sich über ihn lustig machte oder nur über seine Firma. Erschreckend daran war, dass sie wahrscheinlich recht hatte; die Leute, die er in der Firma fürchtete, waren nicht unbedingt diejenigen, die in der Bürohierarchie über ihm standen, sondern diejenigen, die ihn nicht grüßten und verächtlich behandelten, wie zum Beispiel Clodagh, Hectors feuerspeiende Sekretärin mit der Granitfrisur.
Asif macht sich auch Sorgen um Yasmin, da nach den Ferien der erste Drehabschnitt beginnen wird. Sie kann es nicht ausstehen, wenn sie ihren Tagesablauf ändern muss, und Asif ist unsicher, wie sie das Filmteam verkraften wird, das sie beobachten soll, ihr aber zweifellos auch in die Quere kommen und eine Krise ungeahnter Ausmaße auslösen wird, die dann für die Nachwelt aufgezeichnet wird. Er weiß nicht, ob es klug ist, den Film so kurz vor Yasmins Abschlussprüfungen zu drehen, aber sie war merkwürdig erpicht darauf, die Filmarbeiten so bald wie möglich hinter sich zu bringen.
Yasmin scheint wegen der möglichen Belästigungen nicht beunruhigt; sie ist in letzter Zeit geradezu aufreizend ruhig, noch in sich gekehrter als sonst. Wenn er mit ihr spricht, sieht sie ihn so ausdruckslos und verschlossen an, dass er sich zusammenreißen muss, um nicht zu schreien, damit sie ihn auch sicher hört; sie antwortet ihm wie aus weiter Ferne und erinnert sich zwar daran, dass sie Blickkontakt herstellen muss, aber es ist, als sähe sie ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch. Asif fragt sich, was sein toter Vater jetzt von ihr halten würde; er hatte Yasmin nur als brüllendes Kleinkind erlebt, das ständig den Kopf gegen die Wand schlug. Nun entwickelt sich Yasmin zu einer äußerlich gelassenen, unnatürlich beherrschten jungen Frau, die sich häufiger daran erinnert, in einer bestimmten Situation das Richtige zu sagen, als dass sie es vergisst; allerdings sagt sie es mit so wenig Gefühl wie ein vorprogrammierter Automat. Nach all der harten Arbeit an Yasmins sozialer Kompetenz würde Dad den Unterschied vielleicht gar nicht als so große Verbesserung empfinden.
Irgendwie macht sich Asif auch Sorgen um die Frau, die er beim Stillen gestört hat. Er hat täglich nach ihr Ausschau gehalten und sich auf dem Gang herumgetrieben, der zu dem nie benutzten fensterlosen Sitzungsraum führt, hat sie aber nie wieder angetroffen. Als er die Sekretärinnen in den Abteilungen Unternehmenssanierung und Finanzdienste beiläufig fragte, ob sie eine Frau mit Baby gesehen hätten, sahen sie ihn an, als hielten sie ihn für einen Verrückten, der Visionen von der Madonna mit dem Kinde hat. Ob er sich das Ganze womöglich nur eingebildet hat? Eine Halluzination kommt ihm unwahrscheinlich vor, aber so was gibt’s, oder nicht? Scheinbar ganz normale Menschen haben Halluzinationen, für die es ganz normale medizinische Erklärungen gibt; vielleicht war in dem thailändischen Take-away-Essen von Sonntagabend ein komischer Pilz gewesen, vielleicht hat er einen rasch wachsenden, dringend behandlungsbedürftigen Gehirntumor. Vielleicht ist er ein unerkannter Schizophrener wie dieser geniale Matheprofessor in dem Film, den er letzte Woche mit Yasmin gesehen hat. Er weiß, die Idee, er könnte eine stillende Mutter mit einem glucksenden Baby erfunden haben, ist lächerlich; was ihn aber verunsichert, ist die Schönheit der Frau. War sie zu schön gewesen, um wahr zu sein?
Terry, der Assistent mit der Igelfrisur, wirft das neueste Memo der Geschäftsleitung in den überquellenden Posteingangskorb auf Asifs Schreibtisch. Asif überfliegt das Blatt, ohne es wirklich zu lesen; das Kauderwelsch hat längst die Kraft verloren,
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