Als ich lernte zu fliegen
oben laut gegen Lilas Fernsehsendungen unten antönte oder umgekehrt. Dass etwas los war, stand fest, denn Lilas Gesicht war zu einer schwarzen Wolke voll Wut verfinstert, Yas’ Musik lief noch lauter als sonst, und aus der Küche zog kein beruhigender Essensduft, normalerweise das Zeichen, dass Mum zu Hause war und Abendessen kochte.
»Dreimal darfst du raten!«, zischte Lila. Sie saß auf der untersten Treppenstufe in der Diele, den Telefonhörer im Schoß. »Das Gleiche, was immer los ist! Die verdammte kleine Miss Sonnenschein da oben ist los.«
Asif versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken; er hatte einen langen Tag in der Schule hinter sich und war müde. Er machte sich Sorgen, dass er mit seiner Schwäche in Vektorrechnung seinen Notenschnitt verpatzen und seine Bewerbung um einen Platz in Cambridge gefährden würde; deshalb hatte er ohne Pause für die Prüfungen gearbeitet. Er fragte sich, woher Lila die Energie nahm, wegen Yasmin dauernd so kratzbürstig und wütend zu sein; er fand es einfacher, ihr merkwürdiges Verhalten zu akzeptieren, es über sich hinwegspülen zu lassen wie Wellen über Sand. Wut veränderte nichts, im Gegenteil, dann wurde mit Yasmin alles nur noch schlimmer.
»T ut mir leid, dass dich das so langweilt.« Lila war das Gähnen nicht entgangen. »Du musstest dich ja nicht damit herumschlagen. Wo warst du überhaupt – hast du im Zeitungsladen Jilly angeschmachtet oder hinter dem Fahrradschuppen mit Carrie Slater rumgemacht, dieser Schlampe?« Sie wählte eine Nummer, stocherte ungeduldig in die Tasten, als hätte sie es schon etliche Male versucht, und knallte beim Ertönen des Besetztzeichens den Hörer verärgert hin.
»W eder noch«, widersprach Asif entrüstet; er war sauer wegen Lilas ungerechter Beschuldigung, nachdem er einen öden Nachmittag lang die Kräfte theoretischer Leitern berechnet hatte, die an imaginären Wänden lehnen, sowie die Winkel und Gewichte, die ein Umkippen verhindern würden. »Ich habe gelernt. Und du hast mir immer noch nicht erzählt, was eigentlich los war«, wies er sie zurecht. »Die Fakten, bitte«, schob er nach, bevor Lila wieder eine allgemeine spitze Bemerkung machen konnte.
»Das verdammte Rain Girl hat über zwei Stunden für den Heimweg von der Schule gebraucht. Mum hat Panik gekriegt, sie dachte, Yasmin hätte sich wieder verirrt, obwohl das nach dem ersten Monat in der neuen Schule kein einziges Mal mehr passiert ist, und ist sie suchen gegangen. Yasmin ist inzwischen zu Hause eingetrudelt, sitzt mitten in ihrem Zimmer und summt mit zugehaltenen Ohren, und Mum ist immer noch nicht zurück, und ich kann sie auf ihrem Handy nicht erreichen.«
»W ahrscheinlich ist sie in der U-Bahn und sucht nach Yasmin«, vermutete Asif. Als Yasmin in ihrer neuen Schule anfing, war Mum die ersten paar Wochen mit ihr gefahren. Sie brach lächerlich früh auf, um die Pendlermassen zu vermeiden und selbst rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, nachdem sie Yasmin abgesetzt hatte. Schließlich konnten Yasmins psychologische Betreuer Mum davon überzeugen, dass es für Yasmins Unabhängigkeit besser sei, wenn sie sie allein fahren ließe. So kam es, wie es kommen musste: Yasmin verirrte sich. Mum nahm die U-Bahn und stieg an jeder einzelnen Station auf der Fahrt zur Schule aus; schließlich fand sie Yasmin in Archway auf dem Bahnsteig am Boden sitzend. Der Zug hatte unerwartet hier geendet, und Yasmin war einfach nicht auf die Idee gekommen, einen anderen zu nehmen.
»Ach, was du nicht sagst«, giftete Lila und knurrte noch völlig überflüssig: »Du Blödmann, du blöder KERL , du.«
»Und warum hat Yasmin so lange gebraucht?«, fragte Asif.
»Keine Ahnung. Ich hab sie gefragt und ihr gesagt, dass Mum sich Wahnsinnssorgen gemacht hat und sie suchen gegangen ist, da hat sie angefangen, mich anzubrüllen«, erklärte Lila. »Da hab ich ihr gesagt, dass sie in die Klapsmühle kommt, wenn sie sich nicht zusammenreißt, und da ist sie in ihr Zimmer gestürmt und hat mir die Tür vor der Nase zugeknallt.« Während sie das erzählte, war sich Lila schmerzlich bewusst, dass sie die Situation vielleicht etwas besser hätte handhaben können.
»Na toll«, sagte Asif verärgert. »Sie ist doch erst zwölf. Ihr hätte alles Mögliche passieren können, und du machst sie zur Schnecke. Wirklich super, Lila.«
»Halt die Klappe, das ist nicht meine Schuld«, sagte Lila und versuchte wieder, Mum anzurufen. Wieder knallte sie den Hörer hin und erschrak heftig, als er
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