Als ich lernte zu fliegen
sichtbar, im Spalt ihrer Zimmertür; im schwachen Widerschein des Badezimmerlichts sah sie ein wenig unheimlich aus, dieses Kind, das nie wie andere Kinder lächelte. Sie hätte der Geist eines misshandelten Waisenkinds aus viktorianischer Zeit sein können, gekommen, um sich zu rächen; dem widersprach allerdings ihr fröhlicher Teletubbies -Schlafanzug, auf den sie immer noch beharrte, auch wenn er schon viel zu klein war und an den Bündchen ausgefranst. Mum kam aus dem Bad, selbst mit ihrem tränenüberströmten Gesicht noch wunderschön mit dem offenen Haar und dem scharlachroten Seidenschlafanzug. Sie blieb schockiert stehen, als sie im schwachen Licht Yasmins schmale, blasse Gestalt im Türspalt bemerkte. Keine der beiden sah Lila. Und plötzlich entdeckte Lila in Mums Gesicht etwas, was sie noch nie darin gesehen hatte: keine ansteckende Tüchtigkeit, keinen wehmütigen Stolz, keine unterdrückten Vorwürfe, sondern schlicht und einfach Angst. Mum sah entsetzt aus. Nur einen Augenblick lang, so flüchtig, dass auch das Licht oder die überschießende Fantasie Lila einen Streich gespielt haben konnte. Im Nu glätteten sich Mums Gesichtszüge wieder, zurück zum üblichen Ausdruck mütterlicher Kompetenz und Allmacht, zu einer Buddha-gleichen, heiteren Gelassenheit, zu einer Miene, die den Anspruch zu erheben schien, dass in diesem Haus Mum die Göttin war, ohne die es kein Haus, keine große weite Welt geben würde. Sie machte einen Schritt auf Yasmin zu, um sie mit einem fröhlichen »Jetzt aber husch ins Bett« zurückzubringen, als wäre Yasmin immer noch drei Jahre alt.
»Mum, dein Gesicht ist ganz nass und salzig«, sagte Yasmin, entzog sich ihrer Hand und wich vor ihr zurück. Und wieder sah Lila diesen Ausdruck in Mums Gesicht, diese Angst, und wusste, dass sie sich das Ganze nicht nur eingebildet hatte. Es war, als ginge ein Riss durch Mums Gesicht und enthülle ihr wirkliches Selbst, das unter der glatten, ruhigen Oberfläche ruderte und scharrte, um sich Luft zu verschaffen. Lila wartete auf der Treppe, ihre Arme juckten und bescherten ihr rotglühende Höllenqualen, aber sie wagte nicht, den leisesten Laut von sich zu geben, die kleinste Bewegung zu machen. Sie grub die stumpfen Nägel in die Handflächen, damit der Schmerz sie ablenkte, während Mum sich das Gesicht wusch und anschließend Yasmin ins Bett zurückbrachte, wo sie ihr dasselbe Schlaflied vorsang, das sie schon für Lila und Asif gesungen hatte, als sie noch klein waren.
Nichts von Bedeutung, redete Lila sich ein, als sie wieder im Bett lag und sich wie wild mit der Haarbürste ihrer Mutter kratzte; ihre Arme juckten noch schlimmer als vorher, als Lila in die Küche hinuntergegangen war, fühlten sich an, als wolle die Haut davonkrabbeln. Nichts von Bedeutung, wiederholte Lila, ohne ein Wort zu glauben. Die ganzen Jahre hatte sie Bitterkeit gegenüber Mum empfunden, weil sie dachte, Mum liebe Yasmin mehr als sie. Aber jetzt erkannte sie die Wahrheit: Mum liebte Yasmin nicht mehr, sondern hatte Angst um sie, oder Angst vor ihr, egal, es lief auf dasselbe hinaus. So viel Angst, dass sie im Bad schluchzte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Lila war erschüttert, wie sehr sie Yasmin in diesem Moment hasste, mehr, als sie für möglich gehalten hatte. Sie wusste, dass sie etwas gesehen hatte, was nicht für ihre Augen bestimmt gewesen war, und dass sie es niemandem sagen durfte, vor allem Asif nicht, denn er könnte genauso reagieren wie sie. Wegen Yasmin musste sie Mums Geheimnis für sich behalten, für immer, und es würde unter ihrer Haut weiterbrodeln wie ein zweites juckendes Ekzem. Sie drückte Mums Bürste so tief und heftig in ihre Haut, als wollte sie sich blutig kratzen. Doch dann biss sie sich auf die Lippe und legte die Bürste mit großer Selbstüberwindung wieder weg. Sie würde das Geheimnis bewahren, und wenn es zu schwer für sie würde, dann würde sie andere Wege finden, um sich zu bezwingen.
Torkelnde Kreise
Lila hängt nach ihrer Schicht im Café die Schürze auf und verabschiedet sich von der Frau des Besitzers mit einem Winken. »V ergiss dein Trinkgeld nicht«, sagt Maria und läuft ihr mit einer Tasse voller Münzen, die sie in eine Plastiktüte schüttet, bis zur Tür hinterher. »Ich hab noch nie ein Mädchen gekannt, das so wenig macht und dafür so viel Trinkgeld kassiert«, scherzt sie laut. Dann drückt sie Lila auch noch ein Päckchen in die Hand. »Scones«, erklärt sie, »die
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