Als ich lernte zu fliegen
würden sonst nur in der Tonne landen.«
Lila weiß nicht, ob sie die gut gemeinten Bemühungen, sie aufzupäppeln, charmant oder lästig finden soll. Trotzdem nimmt sie das kleine Geschenk mit einem Lächeln entgegen und schlendert den kurzen Weg zu ihrer Wohnung zurück, froh, vom erdrückend freundlichen Trubel im Café befreit zu sein, und erleichtert, dass sie bald wieder allein ist, in ihrem verkommenen Unterschlupf, nur in Gesellschaft ihrer Farben und einer riesigen, nach innen gewölbten Leinwand.
Sie wuchtet die Eingangstür des Mietshauses auf und bleibt wie vom Donner gerührt stehen, als sie auf der untersten Treppenstufe, die langen Beine von sich gestreckt, Henry sitzen sieht. Er hat einen Knopf im Ohr und hört Musik, und einen kaltherzigen Moment lang überlegt Lila, rückwärts wieder hinauszugehen und die Tür zu schließen, bevor er sie bemerkt. Aber sie hat keine Chance, dieser ehrlosen Regung nachzugeben, denn Henry ruft laut »Lila!« und steht auf.
Seufzend tritt Lila ins Haus. »Henry, was machst du denn hier?« Eigentlich soll es ärgerlich klingen, hört sich aber nur müde an.
»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Ich habe seit Wochen nichts mehr von dir gehört. Wir hatten einen fantastischen Nachmittag miteinander, und dann rufst du nicht zurück, wenn ich dir Nachrichten aufs Band spreche, und antwortest nicht auf meine SMS . Ich bin vor ein paar Tagen schon einmal vorbeigekommen und habe bei dir geklingelt. Ich bin sicher, dass du zu Hause warst, aber du hast dich nicht einmal über die Sprechanlage gemeldet.« Er macht eine Pause und fragt ein wenig dümmlich: »W as ist denn los?«
Lila geht an ihm vorbei und steigt die Treppe hinauf. »W ie erfrischend. Noch so ein Kerl, der wegen der vielen Nachrichten jault, die er mir hinterlassen hat. Aber selber steht er voll auf der Leitung«, murrt sie vor sich hin.
Henry folgt ihr, erstaunt über ihre Grobheit: »Du machst dir nicht mal die Mühe, dir eine Ausrede auszudenken? Du könntest sagen, dass bei dir sehr viel los war, oder so.«
Lila fummelt mit ihren Schlüsseln herum und beachtet ihn gar nicht. »Ich hatte nicht vor, überhaupt etwas zu sagen. Aber wenn es dich glücklich macht: Ja, es war sehr viel los bei mir. Oder so.« Sie sperrt ihre Tür auf, bittet ihn nicht herein, hat aber auch nicht den Mut, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »T schüs, Henry«, sagt sie schließlich und sieht ihm direkt ins Gesicht. Auch er wirkt müde; sein feines braunes Haar fällt ihm in die Augen, und sie unterdrückt den Drang, es ihm wie einem Kind aus der Stirn zu streichen. Als sie die Tür schließen will, drückt er mit der Hand dagegen, behutsam zwar, aber auch mit einer Kraft, die bei seinem schmalen Körper überrascht.
»Lila, darf ich mit dir reden, wenigstens kurz? Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber würdest du mich bitte hereinlassen?«, fragt er. Lila zögert. Dass in seiner Stimme keine Spur von Vorwürfen oder Entrüstung durchklingt, lässt sie schwach werden; außerdem erkennt er die Tatsache an, dass er kein Recht auf ihre Zeit hat. Wenn er sich so respektvoll verhält, bringt sie es nicht über sich, ihn einfach rauszuschmeißen.
»Na schön, aber nur kurz. Ich bin gerade mit einem Projekt beschäftigt.« Sie stolziert in die Küche, gießt sich ein Glas Wein ein und trägt es zur Leinwand hinüber, die sie im frühen Abendlicht zu begutachten beginnt. Als Henry von der Diele hereinstolpert und nur knapp einem Sturz über ihr Gerümpel entgeht, erinnert sie sich an ihre Manieren und ruft ihm zu: »V or dir steht ein Sofa, wenn du dich hinsetzen willst. Möchtest du was trinken?«
»Nein danke«, antwortet Henry. Er setzt sich nicht, sondern lehnt sich in Türnähe an die Wand. »Hier lebst du also.«
»Meinst du nicht eher: So lebst du also?«, fragt Lila bissig, da sie an solche Reaktionen beim Anblick ihrer Wohnung gewöhnt ist. Schließlich kann nicht einmal Henry das Chaos hier entgehen, der wild gewordene, halsbrecherisch aufgetürmte Wust an Sachen, der vor Müll kaum sichtbare Boden – insgesamt wirkt die Wohnung, als wäre ein kleiner, entschlossener Tornado durchgefegt.
»Mir gefällt’s«, sagt er. »Meine Wohnung ist wie eine saubere weiße Zelle. Es gibt rein gar nichts darin. Diese Wohnung ist wie du.« Er macht eine Pause und sagt dann mit dem Anflug eines Lächelns: »Hier ist auch sehr viel los.« Er kommt ein paar Schritte herein, findet das Sofa, stützt die Hände auf die
Weitere Kostenlose Bücher