Als ich lernte zu fliegen
Ausgangs die Chancen nicht zu den eigenen Gunsten beeinflusst. Über Hoffnung stehen in meiner Enzyklopädie der griechischen und römischen Mythologie zwei Geschichten, die ich am Tag von Mums Beerdigung noch einmal gelesen habe, als Lila schlechte Laune hatte und mich wahrscheinlich nicht hätte Tetris spielen oder die Simpsons schauen lassen. An diesem Tag habe ich den Band N-P gelesen, und die Geschichten über die Hoffnung stehen unter P, im Eintrag über Pandora. In der ersten Geschichte ärgert sich Zeus über Prometheus, der den Menschen das Feuer gebracht hat. Deshalb befiehlt Zeus dem Hephaistos, als Strafe für die Menschheit die erste Frau zu erschaffen, und alle Götter und Göttinnen geben ihr Geschenke wie Schönheit und Geschicklichkeit, machen sie aber auch heimtückisch und unzuverlässig. Sie wird Pandora genannt, »Allgeschenk« oder »Allbeschenkte«. Sie bekommt eine Büchse, in der alles Übel der Welt enthalten ist, doch ganz unten liegt Elpis, die die Hoffnung verkörpert. Pandora wird Epimetheus, dem Bruder des Prometheus, als Geschenk überbracht. Neugierig auf den Inhalt ihrer Büchse, öffnet sie den Deckel. Da fliegen alle Plagen der Welt heraus, die die Menschheit seither belasten, und Pandora ist so entsetzt, dass sie den Deckel wieder schließt und Elpis in der Büchse einsperrt, die Hoffnung, die alles vielleicht hätte besser machen können.
In der zweiten Geschichte ist Pandora ebenfalls die erste von den Göttern für den Menschen erschaffene Frau, aber weder heimtückisch noch unzuverlässig. Und die Büchse der Götter ist nicht mit fürchterlichen Sachen gefüllt, sondern mit lauter guten Dingen, einschließlich Elpis ganz unten. Aber als Pandora die Büchse öffnet, entweichen alle guten Dinge und gehen für immer verloren, außer der Hoffnung, die in der Büchse bleibt, als Pandora den Deckel hastig schließt. So ist die Hoffnung das Einzige, das den Menschen von ihren Göttergeschenken übrig bleibt und ihnen hilft, mit den Schrecken dieser Welt fertigzuwerden.
Ich selbst bin wie gesagt nicht glücklich und begreife das Konzept Hoffnung nicht. Wenn ich über diese Fragen nachdenke, ist es, als hätte ich meine eigene Büchse geöffnet und alle gewohnten, klaren Routineabläufe, die ich für mein Wohlbefinden brauche, wären hinausgeflogen und in Gefahr. Ich fühle mich, als hätte ich mich in der Wildnis meiner Gedankenwelt verirrt, alles wirbelt um mich herum wie von einem Tornado erfasst, und ich stehe in der Mitte und schreie: »Halt!« Es ist wie eine Albtraumversion meines Traums, in der mir mein Zimmer keine Sicherheit bietet, in der ich nicht fliege, sondern falle. Wie eine Leere, die so viel Raum einnimmt, dass sie sich wie etwas tatsächlich Vorhandenes anfühlt, ein schwarzes Loch, das immer größer wird und alles ringsherum auffrisst. Es ist, als müsste ich zusehen, wie meine Welt zusammenschrumpft, und könnte nichts dagegen tun, nicht einmal mit den exaktesten Routineabläufen, nicht einmal, wenn ich jede einzelne Minute jedes einzelnen Tages meines restlichen Erdenlebens genau verplanen könnte.
Deshalb habe ich beschlossen, wieder die Kontrolle über meine Welt zu übernehmen und ihr Schrumpfen zum Stillstand zu bringen, indem ich sie selbst zum Stillstand bringe. Deshalb spielt es keine Rolle, was für Noten ich in den Abschlussprüfungen bekomme. Deshalb ist es für Asif größtenteils oder völlig irrelevant, dass ich blind werde. Er muss sich nicht mehr um mich kümmern, weil ich nicht mehr da sein werde, außer vielleicht in einem dekorativen Gefäß mit einem Fingerhutvoll meiner Asche, wie Mum auf dem Kaminsims. Aber ich muss warten, bis der Dokumentarfilm gesendet worden ist, da er mehr Verständnis für Menschen wie mich wecken wird. Dann werden die nicht-neurotypischen Menschen, die noch weiterleben, hoffentlich netter behandelt. Und wenn ich alles sorgfältig plane, kann ich versuchen, gleichzeitig den letzten Punkt auf meiner Liste zu verwirklichen, das Einzige, das nichts mit einer Sinneserfahrung, die ich gern machen wollte, zu tun hat: Ich könnte ein Leben retten. Vielleicht sogar mehrere Leben, wenn ich mein Leben so beende, dass meine Organe unbeschädigt als Organspenden entnommen werden können. Logisch gesehen ist das sehr sinnvoll; viele Leben könnten gerettet werden, wenn ab und zu eine Lotterie veranstaltet würde, bei der ein Mensch, der in absehbarer Zeit sterben wird, seine Organe spendet, bevor sie durch seine tödliche
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