Als ich lernte zu fliegen
Samstagvormittag den Schachclub ersetzt hat. Ich habe schon ständig Rot mit orangenfarbenen Flecken gesehen, mit geschlossenen und mit offenen Augen, und wenn Asif nicht zu Hause war, habe ich mir leise und rhythmisch im Bad den Kopf angeschlagen, bis die ganzen neuen sensorischen Erfahrungen durch den Schmerz gedämpft wurden, und die Prellung an meinem Kopf ist so empfindlich geworden, dass es sogar wehtat, wenn ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden habe, aber das konnte niemand sehen, weil der blaue Fleck unter meinen Haaren verborgen war.
Die Therapeuten meinten auch, mein Zustand habe sich gebessert, weil ich meine Abschlussprüfungen in der Schule so gelassen hingenommen habe. Aber ich hatte auch keinen Grund zur Panik, weil diese Prüfungen seit Langem in meinem Terminkalender standen und ich genau wusste, wann und wo sie stattfinden, und weil ich wusste, dass die Ergebnisse keine große Rolle spielen, obwohl ich natürlich gern die Noten bekommen würde, die meinem Jahresniveau nach zu erwarten sind, drei Einsen und eine Zwei. Aber ich glaube nicht, dass mich diese Noten besonders glücklich machen würden; sie würden einfach passen, wie ein Puzzleteil, das sich zwischen die anderen einfügt, oder wie die richtigen Zahlen in einem Sudoku.
Während ich mit den Dingen beschäftigt war, die ich vor dem Erblinden noch gern tun wollte, dachte ich auch über die Fragen nach, die mir die Psychologin des Filmteams gestellt hatte, eine Frau mit hellbraunen Haaren, dünner Nase, schmaler Oberlippe und einer silbrigen, etwa zwei Zentimeter langen Narbe an der rechten Schläfe; sie trug dunkelblaue Jeans, einen weinroten Pullover mit einem Fleck links unter der Brust und einen wehenden braunen Schal, und ihr Pullover roch nach Rosenblüten, als hätte sie vielleicht lauter Rosenblütensäckchen in ihr Pulloverfach gelegt. Sie war nicht hübsch, hatte aber ein freundliches Gesicht und eine leise Stimme, und ihre Fragen klangen wie schlichte Aussagen, denn sie hob die Stimme am Ende des Satzes nicht. Sie wollte, dass ich ihr folgende Fragen beantworte:
Bin ich glücklich?
Habe ich Hoffnung für die Zukunft?
Wie bereits erwähnt, habe ich diese Fragen nicht aufrichtig beantwortet. Ich habe bei beiden Fragen gesagt, ja, natürlich, aber das war eine Lüge, und bei der Erinnerung an diese Lüge wird mir ganz kribblig auf der Haut, als säße ich in der Sonne. In Wahrheit wäre ich gern glücklich, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gefühl überhaupt empfinden kann. Ich halte gern meine gewohnten Abläufe ein und mag es, wenn alles exakt geregelt ist, bis hin zu den Zeiten, wann ich mir die Finger- und Zehennägel schneide (am dritten Tag jedes Monats um neun Uhr abends). Diese geregelten Abläufe sorgen dafür, dass ich mich wohl fühle und nicht aus dem Gleichgewicht komme, aber Wohlfühlen ist nicht dasselbe wie Glücklichsein. Es gibt viel Widersprüchliches, das mir das Leben schwer macht und mich verwirrt, so dass ich mich unwohl fühle. Widersprüchlich ist zum Beispiel, wenn eine Frau über ihren Mann sagt: »Ich kann nicht mit ihm leben und nicht ohne ihn«, oder die Aussage: »Egal, wie man’s macht, immer macht man’s verkehrt.« Oder wenn meine Französischlehrerin die Klasse in Zweiergruppen aufteilt und fragt: »W er will mit Yasmin zusammenarbeiten?«, und sich keiner meldet und ich dann traurig bin, weil niemand mit mir arbeiten will, zugleich aber erleichtert, weil ich lieber allein arbeite. Oder wenn ich gern von jemandem umarmt werden und Nähe spüren möchte, gleichzeitig aber nicht will, dass mich jemand anfasst oder mir zu nahe kommt. Oder wenn ich Liebe erleben möchte, körperliche, romantische Liebe wie im Film, aber wenn der Gedanke, geliebt zu werden, Angst und Beklemmung in mir auslöst. Das ist eine lange Antwort auf eine kurze Frage, und die ehrliche Antwort heißt: Nein. Ich bin nicht glücklich.
Als Zweites wurde ich nach meiner Hoffnung für die Zukunft gefragt. Hoffnung ist für mich etwas schwer Verständliches, weil das ein abstrakter Begriff ist, und man hat mir gesagt, ich hätte Schwierigkeiten, Abstraktes zu begreifen, wie ich auch die Gedankenwelt anderer Menschen schwer begreifen kann. Soweit ich es verstehe, ist Hoffnung die Erwartung, dass etwas gut ausgeht, auch wenn man nicht sicher sein kann, dass es wirklich so sein wird. Das ganze Konzept Hoffnung kommt mir ziemlich unlogisch vor, da die Erwartung eines guten
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