Als ich lernte zu fliegen
Studiums war fast unter Dach und Fach. Jetzt konnte ihm niemand mehr den Boden unter den Füßen wegziehen; er wusste, dass er bleiben würde.
»Stopp!«, rief er plötzlich und hielt unvermittelt an, ohne Faith’ Hand loszulassen, so dass sie mitten im Gehen vor ihm zu stehen kam. Er zog sie an sich und blickte aufmerksam in ihr offenes, sommersprossiges Gesicht, in ihre freundlichen Augen. Einen Moment standen sie so da, dann küssten sie sich auf den Mund, liebevoll, fast schüchtern, als teilten sie ein Geheimnis. Faith’ glänzend rosa Lipgloss schmeckte nach Zuckermandeln. Asif zog fürsorglich den Reißverschluss ihrer Sportjacke zu und beugte den Kopf, um sie weiterzuküssen, aber sie zupfte ihn am Ärmel.
»Dein Zug! Den willst du doch nicht verpassen«, mahnte sie, und sie liefen weiter.
»V ielleicht doch«, sagte Asif. »Ich habe diese Woche wahnsinnig viel zu tun, es passt mir gar nicht, nach Hause zu fahren. Ehrlich gesagt würde ich viel lieber hierbleiben.«
»W arum fährst du dann überhaupt?«, fragte Faith.
Asif zuckte mit den Achseln. »W ahrscheinlich aus schlechtem Gewissen. Mein Dad war Katholik, das muss auf mich abgefärbt haben. Ich fahre sowieso nur einmal im Monat nach Hause, für zwei Tage, aber meine Mum und Lila müssen die ganze Zeit zu Hause sein und sich um Yasmin kümmern. Regelmäßige Besuche sind das Mindeste, was ich tun kann.«
Sie erreichten den Bahnhof erst zwei Minuten vor Abfahrt des Zuges; Asif war stärker außer Atem als Faith, die in der Lacrosse-Mannschaft ihres Colleges spielte. »Nächstes Mal höre ich auf dich und nehme den Bus«, sagte er. »Danke, dass du mich begleitet hast.«
»Stopp!«, befahl Faith, als der Zug einfuhr, zog Asif an sich und gab ihm noch einen schüchternen Zuckermandelkuss. »W ir sehen uns übermorgen, am Samstag. Vergiss die Pyjama-Party nicht!«
»Bis dann.« Asif stieg ein, streckte die Hand durchs Fenster, fasste noch einmal nach der ihren und winkte dann, bis Faith’ kleine, schlanke Gestalt nicht mehr zu sehen war. Lila hatte Faith abfällig »W ahnsinnig niedlich« genannt; im Gegenzug bezeichnete Faith Lila als Hippie-Horror. Faith war Asifs zweite Freundin, aber die erste, mit der er geschlafen hatte. Auch er war Faith’ erster richtiger Freund; er wusste zwar, dass Faith ihn gern hatte, aber er maßte sich nicht an, ihr letzter zu sein, denn für eine dauerhafte Bindung waren beide noch zu jung. Die Umstände hatten sie zusammengebracht, sie aus Liverpool und ihn aus London, sie studierten dieselben Fächer am selben College, und eines Tages würden die Umstände sie wieder trennen. Trotzdem war er mit seinem Leben in Cambridge zufrieden, fast selbstgefällig zufrieden. Im Zug fragte er sich, was seine hinter ihren Zeitungen verschanzten Mitreisenden wohl von ihm hielten. Vielleicht hatten sie gesehen, wie er Faith auf dem Bahnsteig geküsst hatte, vielleicht erkannten sie seinen gestreiften Collegeschal, vielleicht dachten sie, aha, einer dieser Cambridge-Studenten, die womöglich eines Tages die Welt regieren.
Trotz allem wurde Asif das Herz schwer, als der Zug sich London näherte; er machte sich noch einmal bewusst, warum es gut war, nach Hause zu fahren. Er würde Lila sehen; sie würde ihren neuesten Schwarm mit ihm durchhecheln und über die Büffelei für die Abschlussprüfungen jammern, würde sich sichtlich anstrengen, cool zu bleiben, wenn er ihr von den Partys erzählte, auf die er gegangen war, von den uncoolen Uni-Ritualen, die er nun mitmachte: rudern (zugegeben in der dritten Mannschaft), auf den malerischen Wasserwegen entlangstaken, Krocket auf dem Collegerasen spielen, einen Frack für den Maiball ausleihen – er sah in dem Ding aus wie aus einem Fünfzigerjahre-Film. Er würde Mum sehen, und vielleicht hatte sie ihren berühmten Schokokuchen für ihn gebacken, den er so liebte; sie schnitt den Teigboden waagerecht in drei Schichten und füllte ihn großzügig mit Karamellcreme und Vanillesahne, dass er ganz feucht und saftig wurde. Er würde Yasmin sehen und … Er kratzte sich am Kopf. Natürlich hatte es gute Zeiten mit Yasmin gegeben, es musste sie gegeben haben, aber er konnte sich kaum daran erinnern, sie verschwanden unter Geschmolle, Wutausbrüchen und dem Zwang, sich ihrem Lebensrhythmus unterzuordnen. Nie durften sie tun, worauf sie Lust hatten, was Yasmin aber hasste, zum Beispiel schwimmen oder essen gehen. Wegen Yasmin war Asif, bevor er zur Uni ging, nie in einem richtigen Restaurant
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