Als ich lernte zu fliegen
überfürsorglich.« Gedankenlos greift er nach Mei Lins Sandwich und beginnt zu kauen.
»Ich bin sicher, dass Yasmin gut zurechtkommt«, sagt Mei Lin, schüttelt aber dann den Kopf und nimmt ihre Aussage wieder zurück. »Du meine Güte, tut mir leid, das klang jetzt ganz schön dumm. Natürlich bin ich alles andere als sicher. Aber Sie halten sich an die Empfehlungen der Spezialisten und tun Ihr Bestes – mehr ist nicht möglich. Ich glaube, manchmal muss man einfach loslassen.«
»Das glaube ich auch«, stimmt Asif zu. Er findet es seltsam tröstlich, wenn er ihre Worte wiederholt. »W enigstens hat sie gerade einen neuen Fimmel, der sie beschäftigt hält.« Nach den Prüfungen hatte Yasmin ihre Liste künftiger Vorhaben von einem Tag auf den anderen fallen lassen, mit einer für sie untypischen Plötzlichkeit. Asif und ihre Psychologin vermuteten, dass sie die neuen Unternehmungen nicht als Vergnügen, sondern eher als mühsam empfand, als so stressig, dass sie sie nicht fortsetzen wollte. Fast sofort entdeckte sie ein neues Interesse: alles, was mit Medizin zu tun hat. Sie begann zwanghaft Arztserien zu gucken, ein Lehrbuch der Anatomie durchzuackern und sich detailliertes Wissen aus medizinischen Lexika anzueignen. Asif findet das ziemlich morbid, vor allem die Faszination, die Tod und Autopsie auf sie ausüben. Insgeheim fragt er sich, ob ihr neues Interesse etwas mit Mum zu tun hat, ob Yasmin den Mechanismen von Mums Tod auf die Spur kommen möchte. Das wäre nachvollziehbar, aber Asif traut sich nicht, seine Schwester nach den Gründen für ihre neue Leidenschaft zu fragen. Er könnte eine offene, gefühllose Antwort zu diesem Thema nicht ertragen, schon gar nicht, wenn Yasmin anfangen würde, eine nicht mehr eindämmbare Flut grausiger Details vor ihm auszubreiten.
»Ach, sieh mal an«, sagt Mei Lin, als sie das Sandwich in seiner Hand entdeckt, »davon habe ich schon abgebissen. Das heißt ja praktisch, dass wir uns küssen.« Sie sagt das scherzhaft, möchte die ernste Stimmung aufheitern. Aber Asif wirkt schrecklich beschämt, verschluckt sich fast. »T ut mir leid«, entschuldigt sich Mei Lin zerknirscht und klopft ihm auf den Rücken. »Das war wohl nicht so lustig, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich schwöre auch, ich habe keine ansteckenden Krankheiten, die durch Speichel übertragen werden.«
»W enn es zu früh am Tag für Schwulenschelte ist, dann ist es definitiv zu früh für ein Gespräch über den Austausch von Körperflüssigkeiten«, unterbricht Matt, der schließlich mit einem neuen Glas Pimm’s zurückgekehrt ist. Er macht sich über seinen eigenen Teller vernachlässigter Sandwiches her. »Ist es nicht erstaunlich, wie die Dinger gleichzeitig matschig sein können und so trocken, dass sie sich wölben?« Er hebt ein Sandwich zur genaueren Inspektion in die Höhe.
Ravi kehrt mit seinem und Asifs Essen zurück, Scampi mit Pommes und Hähnchen-Tikka Masala, ebenfalls und nicht ganz traditionsgerecht mit Pommes. Asif bietet Mei Lin schüchtern seine Pommes im Tausch gegen ihre Sandwiches an und ist begeistert, wie bereitwillig sie sich von seinem Teller bedient. Als Matt und Mei Lin sich entschuldigen, um mit Tina aus der Personalabteilung zu plaudern, reißt sich Asif sehr zusammen, der schlanken Gestalt, die sich in Dreiviertelhose und taillierter Bürobluse durch die Menge schlängelt, nicht zu lange hinterherzustarren. Da dreht sie sich über die Schulter nach ihm um, als hätte sie seinen Blick gespürt. Rasch sieht er auf sein Essen hinunter, und als er wieder hochschaut, merkt er, dass Ravi ihn nachdenklich betrachtet. »Bist du sicher, dass du nicht zum Sommerfest kommen willst? Das wird bestimmt lustig. Ich bringe Asha mit.«
»Eigentlich könnte ich mal vorbeischauen«, sagt Asif, wie er hofft, beiläufig und gleichgültig, aber er sieht, dass sich Ravi keine Sekunde lang täuschen lässt. »Doch, doch, ich komme«, gibt er kleinlaut zu.
»Gut so«, sagt Ravi. »Du siehst, ich hatte recht.« Er nickt zu Mei Lin hinüber, die mit Tina über irgendetwas lacht. »Die hübschen Mädchen kommen im Sommer wirklich aus ihren Löchern.«
Die Farbe von Musik
Ich heiße Yasmin Murphy und sehe Musik als Farben, und wenn ich die Augen schließe, sind die Farben so lebendig und schön und rein, dass ich das Gefühl habe, das sind die echten Farben und die Welt in meinem Kopf ist die echte Welt. Ich weiß, dass sich die echte Welt außerhalb meines Kopfes
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