Als ich lernte zu fliegen
hinzugehen, da Yasmin daran gewöhnt war, dass er samstags zu Hause blieb. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auch kommen.«
»Doch, doch. Die Marketingabteilung schließt sich immer den Finanzdiensten an, da wir räumlich gleich nebenan sind. Matt macht sich jedes Jahr dafür stark, dass wir uns mit der Steuerabteilung zusammentun, weil die ein größeres Budget für ihre Feste hat, aber das Sommerfest der Finanzdienste ist meistens ziemlich gut. Jedenfalls besser als bei den Wirtschaftsprüfern.« Mei Lin gibt ihrem Sandwich eine zweite Chance und beißt ab, kapituliert dann aber und schiebt ihren Teller zu Asif hinüber. »Bitte, Sie können gern was davon haben, wenn Ihnen das Warten zu lang wird«, bietet sie ihm an.
»Danke.« Asif kommt ein Gedanke, und er spricht ihn schnell aus, bevor er den Mut verliert. »Ich kann Ihnen Melody morgen ein bisschen abnehmen, wenn Sie möchten. Damit Sie zu Ihrem Drink kommen und auch mal tanzen können.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagt Mei Lin, sichtlich gerührt. »Ich glaube, Sie sind der netteste Mann im ganzen Haus. Aber kann ich Ihnen das wirklich zumuten, Asif? Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
Asif freut sich riesig über ihre Antwort. »Das ist weder eine Zumutung, noch drängen Sie sich auf. Es wäre mir ein Vergnügen. Wozu hat man denn seine Sportkumpel?« Dann bekennt er schüchtern: »Außerdem wird mir beim Sommerfest sowieso immer ein bisschen langweilig. Die anderen aus der Abteilung gucken immer tief ins Glas und sind dann nicht mehr ganz zurechnungsfähig; ich selbst trinke nicht so viel, wegen Yasmin.«
Mei Lin nickt verständnisvoll. »W ie geht es Yasmin denn? Es muss seltsam für sie sein, dass die Schule jetzt zu Ende ist.«
Asif zuckt mit den Achseln. »Seltsam für uns beide«, sagt er. »Ich mache mir ein bisschen Sorgen um sie, denn sie ist sehr an ihr festes Tagesprogramm gewöhnt. Ich stelle mir dauernd vor, dass sie zu Hause sitzt, den ganzen Vormittag Doom spielt und den ganzen Nachmittag dieselbe Folge von Emergency Room guckt.« Nachdem Yasmin die Abschlussprüfungen abgelegt hatte, war sie immer noch in die Schule gegangen, obwohl das nicht mehr nötig war. Sie hatte ganz allein in leeren Klassenzimmern ihren üblichen Stundenplan abgesessen und den Stoff wiederholt, der geprüft worden war; in der Mittagspause spazierte sie auf dem Schulhof herum. Weder Asif noch die Lehrer hatten versucht, sie daran zu hindern, das schien nur unnötig grausam. Als die Schule zwei Wochen später für den Sommer schloss, sah sich Asif vor einem Dilemma. Normalerweise schrieb sich Yasmin für das Programm der Summerschool ein; das heißt, sie stand den größten Teil seines Arbeitstages unter Aufsicht. Aber für Schüler, die ihre Abschlussprüfungen abgelegt hatten, gab es dieses Angebot im Sommer nicht mehr. Asif hatte zwei Möglichkeiten: Entweder meldete er sie für die Kurse der jüngeren Schüler an, wo sie gut betreut wäre – das kam ihm allerdings überängstlich vor, denn Yasmin war schließlich neunzehn Jahre alt und hatte drei Zusagen von Londoner Universitäten. Oder er überließ sie zu Hause sich selbst, während er im Büro war. Yasmins Therapeuten rieten zu Letzterem. Zwar würde Yasmin auch während des Studiums zu Hause wohnen, aber sie musste lernen, ihre Zeit selbst einzuteilen. Und sie hatte in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht, sich neuen Erfahrungen geöffnet. Niemand wagte davon zu sprechen, dass sich ihr Zustand »besserte«, das war unsachgemäß, unsensibel und medizinisch nicht korrekt. Denn damit würde unterstellt, dass Asperger eine Krankheit ist und keine neurologische Normvariante. Dennoch lief die Einschätzung der Therapeuten auf eine Verbesserung hinaus. Sie glaubten wirklich, dass Yasmin dabei war, einige ihrer Verhaltensprobleme zu überwinden; vielleicht war sie reif für mehr Unabhängigkeit, wenn Asif ihr nur den nötigen Freiraum geben, wenn er sie loslassen würde – als wäre er derjenige, der sie gebremst hatte.
»Letzte Woche wollte ich zum Ferienbeginn ein paar Tage frei nehmen«, erklärt Asif; er befürchtet, Mei Lins freundlicher Blick, ihr stummes, ermutigendes Nicken könnte womöglich den Hauch eines Vorwurfs enthalten. »Ich wollte ihr helfen, einen neuen Zeitplan für den Sommer aufzustellen, Bibliotheksbesuche, Spaziergänge im Park und solche Dinge, aber ihre Psychologin hielt das für kontraproduktiv. Alle Therapeuten waren der Meinung, ich sei etwas
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