Als ich lernte zu fliegen
befindet, aber manchmal ist es einfacher, in meinem Kopf spazieren zu gehen. Und manchmal schotte ich mich von der echten Welt ab, weil dort so viel passiert, und schließe mich in mein Zimmer ein, denn dort weiß ich, wo alles ist, und dort stört mich nichts Neues, außer vielleicht etwas Kleines wie eine Fliege oder eine Spinne an der Wand. Dann mache ich die Augen zu und spiele ein Musikstück und konzentriere mich auf den Klang der Farben, damit ich auch in meiner eigenen Welt nicht herumwandern muss, damit ich nicht denken muss.
In letzter Zeit träume ich immer wieder den gleichen Traum, was mich nicht stören sollte, weil ich Wiederholungen mag, aber dieser Traum quält mich trotzdem, weil er sich immer wieder etwas verändert. In diesem Traum weiß ich, dass ich träume und im Traum alles tun kann. Und dann fliege ich in meinem Zimmer herum, wo alles vertraut ist, und fühle mich sicher. Früher war der Traum hier zu Ende. Aber jetzt geht der Traum weiter, das Fenster zur Straße ist offen, und es zieht mich zur Fensterbank, aber ich fürchte mich, weil ich mein Zimmer nicht verlassen, nicht hinausfliegen möchte. Denn ich weiß, draußen kann ich nicht mehr fliegen und stürze ab. Ich klammere mich an der Fensterbank fest und kämpfe dagegen an, hinausgezogen zu werden. Irgendwann kann ich mich nicht mehr festhalten, und dann ist der Traum zu Ende. Aber eigentlich ist er nicht wirklich zu Ende, sondern fängt wieder von vorn an, immer wieder. Wie eine auf Wiederholung programmierte DVD . Und dass ich das Ende des Traumes kenne, macht es auch nicht besser.
Es ist kein glücklicher Traum. Kein Traum, in dem es Hoffnung gibt. Ich bin jetzt schrecklich müde, weil ich so gern schlafen würde, aber Angst vor dem Einschlafen habe, denn ich weiß, dass ich dann diesen Traum träume, und der Traum ist wie meine Innen- und Außenwelt kein sicherer Ort mehr.
Kleine Wunder
»Hi, Lila«, begrüßt Asif seine Schwester auf der Türschwelle und küsst sie flüchtig auf die Wange. »W ie geht’s?«, wendet er sich an Henry und schüttelt ihm höflich die Hand. »Danke, dass ihr kommt und für mich auf Yasmin aufpasst. Sie ist einfach nicht daran gewöhnt, am Wochenende allein zu sein. Ich meine, richtig aufzupassen braucht ihr natürlich nicht, es ist nicht wie Babysitten, ich meine bloß …« Er gerät ins Stottern und bricht ab; vielleicht hat er Lila und Henry schon verschreckt und verjagt, bevor sie überhaupt zur Tür hereingekommen sind.
»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Asif«, sagt Lila amüsiert. »W ir wissen, was du meinst.«
»Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können«, beruhigt ihn Henry. »So mussten wir nicht länger bei meinen Brüdern rumhängen, die gerade dabei sind, Lilas Boiler zu reparieren.«
»Es ist so praktisch, dass Henry aus einer Installateursfamilie kommt«, sagt Lila trocken. »Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich vielleicht schon viel früher mit ihm eingelassen.«
»Es ist schon toll, dass Andy und Jack den ganzen Weg von Southwark hergekommen sind, um uns aus der Klemme zu helfen, aber wenn ich mir noch länger anhören muss, wie sie Lila Geschichten über Harry den Bettnässer erzählen, dann könnte ich sie erwürgen. Ich bin zwar blind, aber nicht taub«, knurrt Henry.
»Du warst ein Bettnässer?«, fragt Asif. Er ist dermaßen überrascht, dass er jede Diskretion vergisst, und wundert sich, wie man so etwas so beiläufig in ein Gespräch einfließen lassen kann.
»Eben nicht«, sagt Henry. »Das ist es ja.«
Sie gehen ins Wohnzimmer, wo Yasmin Grey’s Anatomy sieht und gleichzeitig in ihrem Anatomiebuch liest. Sie steht auf wie ein Automat, sagt »hallo« und vergisst auch nicht, wenigstens kurz Blickkontakt zu halten. Etwas gequält lässt sie Lilas übliche stürmische Umarmung über sich ergehen und setzt sich wieder hin.
»Ich habe schon mal für mittags vorgekocht«, erklärt Asif den beiden hastig, mit einem Auge auf der Küchenuhr. Lila ist pünktlich eingetroffen, trotzdem hat Asif irrationale Ängste, er könnte zu spät kommen; er traut den U-Bahnen am Wochenende nicht, eigentlich auch an den anderen Tagen nicht, aber am Wochenende noch weniger. »Aber wenn ihr keine Lust auf mein Essen habt, könnt ihr euch ruhig was vom Take-away bestellen, die Speisekarten hängen an der Kühlschranktür.«
»Riecht lecker«, sagt Lila, schlendert in die Küche und kehrt wieder zu ihnen zurück. »Eines Tages wirst du
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