Als ich meine Eltern verließ - Roman
künstlichen, nicht eine einzige!«
Sie wollen, dass sich die Sargträger und der ZM anschließend entfernen und während der gesamten Feier nicht zu sehen sind; es genügt, sie bei Bedarf in der Nähe zu haben. Die Bestatter sind unschlüssig. Mama und Papa bleiben hartnäckig. Immerhin seien Aufführungen ihr Metier. Gemeinsam mit ihren Freunden aus der Musik und vom Theater würden sie die Trauerfeier sehr gut ohne die Hilfe der Angestellten vom Krematorium geregelt bekommen. Sie ernten Widerspruch.
»Aber die Abfolge der Reden?«
»Darum kümmern wir uns.«
»Und die CD s?«
»Keine CD s, ausschließlich live , vor allem an diesem Tag. AUSSCHLIESSLICH LIVE! «
Sie haben sich von ihren Stühlen erhoben. Ihr Gebaren wird auf ihr Leid zurückgeführt. Man beugt sich ihnen.
»Aber trotz alledem, und die Reihenfolge insgesamt?«
»Reine Improvisation! Keine Reihenfolge, kein Leiter! Es wird so lange dauern, wie es dauert. Planen Sie den gesamten Nachmittag ein.«
Ratlosigkeit oder vielmehr ernsthafte Besorgnis aufseiten der Bestatter.
Zerknirscht lenken die Eltern ein: »Schon gut, schon gut, wir haben verstanden! Es wird zwangsläufig alles mit der Verbrennung enden, machen Sie sich keine Sorgen, wir haben nicht vergessen, aus welchem Grund wir da sind. Keine Angst, wir werden alles zum Abschluss bringen. Dann werden wir nach Ihnen rufen. Aber vorher lassen Sie uns bitte auf unsere Art vorgehen.«
In ihrem Zorn schlagen sie einen ziemlich harten Ton an. Die Bestatter sind allerdings toleranter als angenommen – das müssen sie in solch heiklen Situationen auch sein können. Sie werden alles nach ihren Wünschen organisieren.
Nach dem kraftraubenden Gespräch fahren Mama und Papa auf dem Rückweg von Quimper nach Douarnenez einen Umweg über meinen zukünftigen Friedhof. Als handelte es sich um eine Ortsbegehung. Dort brechen sie endgültig zusammen.
Der Friedhof Sainte-Croix ist so neu, dass er noch gar kein Friedhof ist. Er ist nichts weiter als ein unbebautes Gelände, das auf Leichen und Gräber wartet. Eine Aufteilung ist durchaus vorhanden, auch Umrisse, angelegte Plätze, Beete mit ausgesäten Blumen, ein Gebäude für die Urnenhalle, hier und da ein paar junge Triebe, aber alles mit Blick auf die Zukunft. In zehn, in hundert Jahren wird dort bestimmt ein echtes Stück Erde sein, das die Toten aufnehmen kann. Im Moment ist Sainte-Croix, im Stadtteil von Kerlouarnec, eine Wüste. Die Toten brauchen aber eine Oase. Und die Lebenden auch. Mama und Papa hocken sich auf die Erde und weinen. Klar, wenn Lions Asche hier bestattet wird, schneiden sie sich ins eigene Fleisch.
Mama: »Es kommt nicht infrage, dass wir diesen Friedhof hier einweihen. Kommt nicht infrage, dass wir Lion in dieser Einöde aussetzen. Undenkbar hierherzukommen.«
Es hört sich an, als würden sie beide mit mir dort wohnen müssen. Blockade. Vorhin bei den Bestattern haben sie noch aufbegehrt, sich an etwas festgeklammert, an die Vorstellung von einer schönen Trauerfeier, wenigstens das. Jetzt denken sie nur noch ans Sterben. Bis dahin haben sie sich allem gestellt: meinem Tod, meinem Leichnam, der Leichenhalle, dem Thanatopraktiker, den einzelnen Schritten, egal, was kam. Aber jetzt ist es aus, nein, sie können nicht mehr. Die bittere Pille des wirklichen Todes kriegen sie einfach nicht runter. Vor meinem zukünftigen Friedhof, der auch ihrer sein wird, haben sie ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Sie bleiben auf der Erde sitzen und weinen.
So lange, bis Regen und Kälte sie aufscheuchen, sehr viel später.
Dienstagmorgen haben Jean-Yves, Bernard und Monique eine geniale Idee. Sie finden eine Lösung aus ihrer Hoffnungslosigkeit. Es besteht die Möglichkeit, mich in ein richtiges Grab auf dem alten Friedhof von Ploaré zu legen, gegenüber vom Meer, in unserer Nähe. Das wäre zwar nicht ganz vorschriftsmäßig, aber was kümmert die Gemeindeverwaltung schließlich der Tote, den man in ein verlassenes Familiengrab legt: zukünftige Gebeine oder bereits Asche, das ist egal, Hauptsache, es kommen dort die Überreste hinein. Die Aussicht auf ein Leben nach meinem Tod rückt für Mama und Papa wieder etwas näher. Die Vorbereitungen gehen erneut ihren Gang.
Mittwoch. Vier Tage nach meinem Tod. Mein Trauerzug kommt aus dem Aufbahrungsraum im Krankenhaus und bricht auf ins Krematorium. Vorn im Mercedes-Leichenwagen der Chauffeur mit Schirmmütze. Hinten Mama und Papa, die sich die Hand halten. Während der dreiundsiebzig
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