Als ich meine Eltern verließ - Roman
Kilometer fällt kein einziges Wort. Es gibt nichts zu sagen auf dieser stupiden Strecke. Mein Sarg befindet sich in einem Seitenfach des Wagens, schon nicht mehr in ihrer Nähe. In drei oder vier Stunden, wenn ich erst einmal abgefackelt bin, kommt es noch schlimmer, dann bin ich Lichtjahre entfernt.
Die Landschaften fliegen in tristem Grau vorbei. Die Erinnerungen ebenfalls. Mama und Papa sehen in Gedanken Fotoalben vergangener Zeiten an sich vorüberziehen. Kilometer dreißig, Châteaulin: das Run, super Lokal. Wir wohnten erst seit Kurzem in der Bretagne, als sie mich mit dorthin nahmen. Coole Musik, erster Schluck Bier. Den Rock mochte ich, den Alkohol nicht. Kurz danach die Aulne, der Kanal von Nantes nach Brest; Foto mit Fahrrad und mir als vierzehnjährigem Jugendlichen. Während sich die Fünfzig- bis Sechzigjährigen frischen Wind durch die Adern pusten ließen, fand ich Fahrradtouren stinklangweilig. Pädagogische Maßnahme der Eltern. Kilometer dreiundvierzig, Pleyben: nichts, keine Erinnerung, kein Foto, der Wagen fährt einmal quer durch ihre persönliche Einöde. Kilometer fünfzig, Châteauneuf-du-Faou: Album vom ersten Fest-noz, dem traditionellen bretonischen Volksfest, das eigentlich ein Fest-diez war, da es am Nachmittag stattfand. Bunt gemischtes Publikum, generationenübergreifende Familien, es wird ungezwungen und ausgiebig getanzt; Bier im Veranstaltungszelt um die Ecke – hier wird ausgiebig getrunken. Fröhlichkeit unter Gleichgesinnten, aber Papa will danach nur noch eins, Bretone werden, An dro, Plinn, Kann ha diskan , Gavotte, Bombarden, er fährt auf alles ab. »Diese Bekloppten und dieser Tanz, das hat was!« Ich konnte mich nur darüber lustig machen; auch Mama war zurückhaltender; ich war nicht wieder hergekommen; sie schon, manchmal sollte sie sich von dem traditionellen Reigentanz mitreißen lassen, manchmal nicht. Kilometer zweiundsechzig, Cléden-Poher, nichts außer einer Erinnerung an einen Ausflug mit dem Ruderboot in Pont-Triffen, allerdings ohne mich. Nichts mit allen dreien gemeinsam bedeutet nichts, an das es zu denken lohnt. Und da auf »nichts« wie selbstverständlich »nie« folgt, gehen die Gefühle mit ihnen durch. Kilometer einundsiebzig, Ankunft in Carhaix-Plouguer, noch mehr Erinnerungsfotos, die Straße zum Festival »La Route du Rock« in Saint-Brieuc, jeden Frühling alle drei voll auf Musik. Außer dieses Jahr, Mist, wie schade, ich hatte Prüfungen an der Uni.
Der letzte Kilometer vor dem Ziel. Der Leichenwagen fährt an der Kirche von Carhaix vorbei, biegt in die Straße nach Brest und nach einhundert Metern rechts auf einen asphaltierten, abfallenden Weg, noch fünfzig Meter, ein flaues Gefühl im Magen, Schluss mit den Fotoalben, Halt, Endstation Krematorium, alle steigen aus. Es ist Punkt fünfzehn Uhr, die Feierlichkeiten beginnen exakt zum vereinbarten Termin. Achtung, der Chauffeur hat die Warnblinkanlage angestellt. Die Türen werden weit geöffnet. Die Sargträger nehmen ihre Mützen ab. Etikette bis ins kleinste Detail: Meine Trauerfeier beginnt. Tatata taaa! Tatata taaa! Wieso schwirrt ausgerechnet jetzt Beethoven in Papas Kopf herum?
Es herrscht großer Andrang – eine schmeichelhafte Geste, die unter dem tonnenschweren Leid nichts ausrichten kann. Der Wagen ist in der Mitte der vielen Menschen stehen geblieben. Letzten Juli hatten sie der Ankunft von Simons Leichenwagen zugeschaut. Heute sind sie es, die auf der Bühne stehen. Verlegen steigen sie aus. Schon fährt der Leichenwagen weiter. Instinktiv wollen sie ihm folgen – wohin sonst als dem Sarg hinterher? Aber nein, ein ZM taucht auf und flüstert ihnen zu, dass alles in Ordnung sei, sie bräuchten nur ins Gebäude zu gehen, wo dann der Sarg stehe. Mama läuft überstürzt auf eine Freundin zu, umarmt eine nach der anderen. Tränen, Umarmungen, abgehackte Worte. Papa beschließt spontan, auf niemanden zuzugehen, andernfalls würde er jeden umarmen und kein Ende mehr finden. Er dreht sich langsam um die eigene Achse und begrüßt alle auf einmal. »Danke, dass ihr da seid.« Wirklich erkennen tut er nichts, wie ein k. o. geschlagener, blinder Boxer im Ring oder ein trunkener, blutverschmierter Torero in der Arena steht er da.
Plötzlich verspürt er ein dringendes Bedürfnis. Noch rasch auf die Toilette, bevor es losgeht. Vor der Tür stößt Papa auf Lion, den großen Lion , wie sie ihn nannten, meinen Patenonkel. Er freut sich riesig, dass er von allen Brüdern ausgerechnet ihn hier
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