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Als ich meine Eltern verließ - Roman

Als ich meine Eltern verließ - Roman

Titel: Als ich meine Eltern verließ - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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trifft. Heute sind alle Empfindungen hundertfach potenziert, Papa lacht und klopft dem großen Lion beschwingt auf die Schultern. Er scheint auf einmal wie ausgewechselt, zurück auf null. »Gehen wir zusammen pinkeln?« So viel Heiterkeit macht den großen Lion verlegen. Die Begegnung mit seinem leidgeprüften Kumpel hatte ihn innerlich aufgewühlt, und nun scheint dieser einen Clown gefrühstückt zu haben. Im Augenblick ticken sie so verschieden wie noch nie. Der große Lion lässt ihn allein gehen. Hässliches Pissoir, Hände waschen, ein Schwall Tränen, das Gesicht mit Wasser bespritzen. Drei Minuten später sieht Papa Mama neben dem Sarg auf dem Boden sitzen, von Tränen überströmt. Sie schluchzen und weinen, zwei Häufchen Elend.
    Als die Blumen, auf Mamas Wunsch hin alle weiß, um den Sarg verteilt sind – sie hatte es allen Freunden und Bekannten ausdrücklich gesagt, in der Zeitung und überall, ausschließlich weiße Blumen , als wäre dieses Weiß lebenswichtig –, entfernen sich die Uniformierten. Unter den Versammelten sind nur noch die zahlreichen so unvorstellbar nahen Freunde. Die Trauerfeier beginnt.
    Zu Anfang haben sich Mama und Papa an meinem Sarg regelrecht festgehalten, sie saßen Seite an Seite am Boden, so nah wie möglich beieinander, und umklammerten sich. Trauerfeiern sollen dazu dienen, leichter Abschied nehmen zu können. Das wollen sie nicht.
    Papa hatte zu Jean-Yves gesagt: »Ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand wir in dem Moment sein werden, Martine und ich, ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden, ein paar Worte zu sagen. Wir werden sehen. Ich hoffe sehr, dass ich in der Lage bin, zu unseren Freunden und Bekannten zu sprechen. Wenn wir aber nichts können außer weinen, mach du bitte das Beste draus.«
    Jean-Yves nimmt hinter dem Pult den Platz des Zeremonienmeisters ein. Er ist jedoch alles andere als der Abklatsch eines ZM, weder schulmeisterlich noch förmlich, weder gezwungen noch filmreif. Sachlich begrüßt er alle Schwestern und Brüder – Mama und Papa verstehen sich und ihre Freunde als eine große Familie. Er spricht von Freundschaft und Emotionen. Ihre Finger krallen sich in den Holzsarg, sie vergießen bittere Tränen.
    Papa springt hin und her zwischen Gegenwart und Zukunft. Jetzt bin ich da in dem Sarg; in drei Stunden sind mein Sarg und ich schon weiter, verbrannt. Das wird nichts ändern … und ob das was ändern wird. Papa will nicht in der Zukunft sein, Papa will auch nicht im Jetzt sein. Papa glaubt, nie wieder irgendetwas zu wollen. Er geht wieder zu Mama. Dort in dem Sarg liegt unser Fleisch und Blut, nicht nur unser Herz. Die rohen, ursprünglichen Abstammungsgesetze bringen ihn ins Schlingern. Er weint hemmungslos. Hält sich für den unglücklichsten Menschen der Welt. Er will nur eines: Kommt alle mit, kommt! Legen wir uns alle auf den Sarg . Dass alles angehalten wird, Stopp, keinen Schritt weiter. Papa will mich behalten, will hier Schluss machen. Nein, Papa, es ist unumgänglich, wir sind hier, damit es weitergeht.
    Wenig später. Mama und Papa sind wieder aufgestanden.
    Papa sagt hastig stotternd: »Danke, es ist so grausam, danke.«
    Er lässt sich von seinen Gefühlen überwältigen. Hält inne. Nichts zu sagen. Nur Tränen. Im selben Moment fällt es ihm jedoch wie Schuppen von den Augen: Er muss erzählen. Nicht von der Leere, sondern von der reichen Fülle. Alles werden sie erzählen, von den letzten Tagen meines Lebens, woran ich gestorben bin, wie ich gestorben bin, jeder will das wissen, er muss davon erzählen. Ohne Absprache kommt Mama zur gleichen Erkenntnis. Und dann noch etwas: Sie müssen alle beide Schritt für Schritt die gemeinsam verbrachten schönen Stunden der letzten Woche nachzeichnen. Das Wunder von Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag: die so unglaublich harmonischen Tage zu dritt. Und dann das Desaster von Freitag und Samstag. Sie haben das Gefühl, dass der Tod, solange sie nur erzählen, nicht alles zu fassen bekommt.
    Auf einmal feste Stimmen, selbst unter Tränen. Es beginnt eine große Improvisation, die einzig wahrhaftige ihres Künstlerdaseins. Merkwürdigerweise werden sie ausgerechnet hier, in diesem Krematorium, eine schöne und wohltuende Erfahrung machen. Umso besser.
    Ihr Bericht beginnt am Anfang der letzten Woche, die wir gemeinsam verbracht haben, so liebevoll zu dritt vereint wie wahrscheinlich noch nie. Am Montag, den 20., rief Papa mich an.
    »Wir hatten beide gerade ein Fußballspiel im

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