Als ich meine Eltern verließ - Roman
heute allein deshalb noch, weil man ihm wieder und wieder aus meinem Leben davor erzählt.
Trotz ihrer zurückhaltenden Art offenbart ihnen Bérangère Etliches über mein Studentenleben. Die vielen Gläser Wein an der Bar im Nationaltheater, die heimlich an der Uni durchzechten Nächte, das Schwarzfahren. Die zahlreichen Verstöße des Sohns verzaubern den Vater gewordenen Anarcho von einst. Am Ende dieses langen, qualvoll-glücklichen Moments, wie jede vertrauensvolle Begegnung dieser Art, kommt Bérangère zum eigentlichen Grund ihres Besuchs. Sie erzählt vom Tag der Bestattung ihrer Großmutter im August. Ich war mitgegangen. Es war so trostlos wie im Juli bei Simon.
»An jenem Abend haben wir uns geschworen, dass es bei uns auf keinen Fall so ablaufen soll, mit diesem ganzen Getue, dem grässlichen Dekokram und den vielen jämmerlichen Floskeln …«
Bérangère nimmt Mamas Hände.
»Martine, deine Idee für Lions Bestattung war einfach genial! Du hast um weiße Blumen gebeten, und tatsächlich hat es einen Berg weißer Blumen gegeben. Ich habe mich nicht getraut, es dir direkt zu erzählen, aber es war genau das, was Lion an diesem Abend zu mir gesagt hat: ›Nichts außer weiße Blumen!‹ Wie hast du das erraten? Ich war sprachlos, als ich die weißen Blumen überall gesehen habe, genau wie er es sich für seine Beerdigung vorgestellt hat! Woher hast du das bloß gewusst?«
Bérangère denkt an die tiefgründigen Mutter-Sohn-Bindungen. Papa sagt sich, dass es mit dem Grund dieser Fügung nicht weit her sein kann. Solche Dinge werden innerhalb der Familie weitergegeben; ich habe Mamas Vorlieben aufgesaugt wie ein Schwamm; bei uns zu Hause hat es seit jeher ausschließlich weiße Blumen gegeben. Aber Papa, der sachlich alles auf den Punkt bringt, behält seine Gedanken für sich und ist kein Spielverderber. Gut so.
Bérangère versucht, sich zu rechtfertigen: »Ihr habt bestimmt auch mal irgendwann über eure Beerdigung nachgedacht, oder? Worte, Bilder, lose Ideen, letzten Endes nur ein Spiel. Wir hatten uns damals unsere eigene Trauerfeier ausgemalt, mehr nicht. Dass Lion dabei nicht wirklich an seinen Tod gedacht hat, das kann ich euch versichern.«
Es nützt nichts, ihre Worte wirken notgedrungen seltsam auf die Eltern. Verunsichert und mit bangem Gefühl fragen sie sich, was noch alles kommen mag. Lion hat an seinen bevorstehenden Tod gedacht, ich wusste es. Papas alte Steckenpferde traben erneut in alle Richtungen, von wegen schleichender Tod und so.
»Lion hat noch zwei oder drei andere Dinge gesagt, und das ist echt erstaunlich. Zuerst ging es um die weißen Blumen. Dann hat er gesagt, dass er eingeäschert werden möchte. Auch hier, woher wusstet ihr das? Sagt mir die Wahrheit: Habt ihr euch irgendwann in seiner Anwesenheit über eure eigene Feuerbestattung unterhalten?«
Mama und Papa hatten noch nie über Feuerbestattung gesprochen, auch nicht unter vier Augen – was weder verantwortungsbewusst noch besonders klug war. Als ich starb, haben sie versucht, aus Aberglauben und ihren Ängsten das Beste zu machen, wahrhaftig keine Glanzleistung.
Warum habt ihr euch für Feuerbestattung entschieden? Mama, um mit mir abhauen zu können, und du, Papa, weil du Mama hinterher wolltest.
Und wenn sie mich in der Erde anstatt im Feuer bestattet hätten? Sie hätten ganz schön danebengelegen! Nachträgliches Entsetzen. Papa bedankt sich innerlich bei Mama. Mama dankt still Bérangère. Bérangère dankt ihnen für ein bisschen weniger Konfusion.
Keiner kann tatsächlich etwas dafür, aber jeder bedankt sich beim anderen.
An diesem recht heiklen Punkt ihrer Erzählungen angekommen, weiß Bérangère nicht, ob sie fortfahren soll. Doch am Ende berichtet sie auch von meinem letzten Wunsch.
»Lion hat außerdem noch gesagt, dass seine Asche in Island verstreut werden soll, zum Abschluss seines Todes.«
Volltreffer! Das hat gesessen. Papa ist wie vom Hocker gerissen, wie erschlagen. Nicht mit Island hat sie ins Schwarze getroffen, sondern mit dem Verstreuen der Asche. Dafür also! Ist dafür die Asche, die sie auf dem Friedhof von Ploaré stibitzt haben, meine Überbleibsel, die sie wie ein zu zweit geteiltes Geheimnis gehütet haben und die nur noch darauf warten, meinem Wunsch gemäß verstreut zu werden? Papa ist außer sich, der Grübler grübelt nicht mehr, versucht nicht mehr zu verstehen, ist nicht mehr positiv, objektiv, reduktiv, intellektiv oder kognitiv – Papa ist dermaßen aufgewühlt,
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