Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als könnt' ich fliegen

Als könnt' ich fliegen

Titel: Als könnt' ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
Ich war so froh, dass wir hier wieder zusammensaßen.
    »Ich habe gedacht, du willst nichts mehr von mir wissen.«
    »Ich auch«, sagte sie. »Und ich hab immer noch Angst davor. Wenn du mein Bein siehst.«
    Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Alles, was mir einfiel, erschien mir irgendwie zu platt. Ich fand, dass es das Beste war, wenn wir uns noch einmal küssten. Aber dann plötzlich brach Milena richtig in Tränen aus, was mich völlig hilflos machte.
    »Du ahnst nicht, was es bedeutet, mit so einem verdammten Bein durchs Leben zu humpeln. Das kotzt mich so an!« Fast schlagartig schien nun ihre Traurigkeit in Wut umzuschlagen. Zwar weinte sie weiter, ließ sich aber nicht mehr von mir in den Arm nehmen. Unvermittelt sprang sie auf und wischte sich voller Trotz die Tränen aus dem Gesicht.
    »Pass auf!«, rief sie. »Ich zeig dir jetzt mal was!«
    Energisch humpelte sie los. Sie drehte eine Runde um den Springbrunnen. Auf den Bänken saßen insgesamt mindestens fünfzig Menschen. Soviel ich mitbekam, war nicht einer darunter, der sie nicht an- oder ihr hinterherglotzte. Die einen offen, die anderen heimlich und versteckt. Manche fast entsetzt, erschrocken, andere mitleidig. Am Ende ihrer Runde setzte sie sich wieder neben mich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich nicht an. Trotzig starrte sie in das hochspringende Wasser des Springbrunnens.
    »Nun, was sagst du?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Stattdessen wurde nun auch ich sauer. Hatte ich vielleicht jemals behauptet, dass niemand sie anstarrte? Warum konfrontierte sie mich also in dieser Weise damit? Das war extrem unfair. So musste ich mich ganz einfach mies fühlen.
    »Und jetzt pass du mal auf!«, rief ich. Ich war schon aufgesprungen und losgerannt. Im Affenzahn umrundete nun ich den Brunnen. Es gab niemanden, der nicht auch mich angestarrt hätte. Ich drehte gleich noch eine zweite und eine dritte Runde. Das Interesse schien sich eher noch zu erhöhen.
    Völlig außer Atem ließ ich mich wieder auf die Bank fallen. Jetzt war ich es, der die Arme vorm Brustkorb verschränkte und stumm ins auffliegende Wasser starrte. Bunt wie ein Regenbogen glitzerte es in der tief stehenden Sonne.
    »Nun«, ahmte ich schließlich Milena nach, »was sagst du?«
    Wir saßen sicher noch achtzehn oder neunzehn Sekunden so und glotzten ziemlich verkrampft vor uns hin. Dann aber war es vorbei. Und zwar gründlich. Milena prustete los. Auch ich konnte mich nicht mehr halten. Wir lachten, bis wir nicht mehr konnten. Obwohl ich nicht mehr darauf achtete, bin ich mir sicher, dass die Leute am Brunnen jetzt uns beide anstarrten.

14
    3. September, Dienstag, 0.30 Uhr
    Meine Eltern waren ganz schön sauer. Dass ich zu spät nach Hause komme, kennen sie nicht von mir. Aber ich hab echt die Zeit vergessen. Einerseits tut es mir leid. Ich glaub, sie haben sich wirklich Sorgen gemacht. Sven hat mich überall gesucht. Andererseits bin ich froh, dass alles so geschehen ist. Tobias und ich mit einer großen Decke am Strand. Meine Lieblingsstelle, zwischen den Dünen. Das Ganze war meine Idee gewesen.
    Ich hatte es nicht ausgesprochen, aber ich glaube, auch Tobias war klar, dass ich ihn hergeschleppt hatte wegen meinem Bein. Um es ihm zu zeigen. Es hat aber gedauert, bis ich mich getraut hab. Zuerst haben wir gar nicht geredet, uns einfach nur in den Sand gesetzt. Etwas später hab ich mich unter der Decke ausgezogen. Tobias ist dann dazugekommen. Ich wollte erst nicht, dass er guckt oder das Bein berührt. Hat er auch nicht gemacht. Wir haben uns einfach unterhalten.
    Ich wollte auf keinen Fall über mein Bein reden. Tobias hat das gemerkt, ohne dass ich es sagen musste. Er hat einfach angefangen, von zu Hause zu erzählen. Die neue Freundin seines Vaters wohnt noch nicht lange bei ihnen. Mit ihrer Tochter Ilka, die kenn ich aus der Schule. Tobias versteht sich überhaupt nicht mit ihr.
    »Was ist mit deiner Mutter?«, habe ich ihn gefragt. »Ist sie …«
    Wir lagen zusammen unter der Decke. Ein bisschen auf Abstand.
    »Sie ist nicht tot«, hat er gesagt. »Obwohl es mir manchmal so vorkommt.«
    »Was ist mit ihr?« Ich hab sofort gespürt, dass da etwas ist in ihm, das er lange nicht berührt hat. Am liebsten hätte er das auch jetzt nicht getan. Sein Körper wirkte verkrampft. Er wollte nicht reden. Ich wiederholte meine Frage.
    »Ist doch egal«, sagte er. »Sie ist einfach weg.«
    »Weißt du, was ich hasse?«, fragte ich ihn. Er schüttelte

Weitere Kostenlose Bücher