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Als könnt' ich fliegen

Als könnt' ich fliegen

Titel: Als könnt' ich fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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den Kopf.
    »Ich hasse es, mein Bein zu berühren. Manchmal lässt es sich natürlich nicht vermeiden. Aber dann mach ich es immer so, dass es dabei nicht besonders gut wegkommt, verstehst du?« Er nickte stumm. Ich rückte ein paar Zentimeter näher an ihn heran. Er tat umgekehrt das Gleiche. Wir lagen auf dem Rücken. Ohne dass wir uns direkt berührten, konnte ich seinen Körper jetzt fast spüren. Meine Haut kribbelte richtig davon, überall.
    »Ich würde es gerne berühren«, sagte er. »Ich würde nichts lieber machen.«
    Er guckte nicht mich an, sondern ein paar Wolken, die über den Himmel zogen.
    »Zusammen«, schlug ich vor. Dann griff ich nach seiner Hand und führte sie langsam zu meinem Bein.
    »Nur ruhig liegen lassen«, sagte ich. Es war ein irres Gefühl. Seit meine Mutter mich als Kleinkind versorgt hatte, war mein Bein nicht mehr von jemand anderem berührt worden. (Außer natürlich von Krankengymnasten und Ärzten, aber das war etwas total anderes.) Obwohl das Bein lebt, kommt es mir oft tot vor. Wie ein abgestorbenes Teil, das ich notgedrungen mit mir herumschleppe. Ich glaube, es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass ich es anders spürte. Fast kam es mir vor, als nähme ich es überhaupt zum ersten Mal wirklich wahr.
    Tobias wollte das Bein streicheln, aber ich hielt seine Hand fest. Ich hatte das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen. Es durfte nicht zu viel auf einmal passieren.
    »Darf ich es sehen?«, fragte er. Seine Stimme war ganz leise. »Ja«, sagte ich. »Aber jetzt noch nicht.« Und nach einer Pause: »Ich glaube, ich weiß auch, was du hasst.«
    Er sagte nichts.
    »Du hasst es, über deine Mutter zu reden«, sagte ich. »Das Thema zu berühren. Wie ich mein Bein.«
    Er schwieg noch immer. Aber ich merkte wieder, wie sich sein ganzer Körper anspannte.
    »Sie ist einfach abgehauen«, sagte er. »Von einem Tag auf den anderen. Plötzlich war sie weg. Alles, was von ihr geblieben ist, war ein Zettel auf dem Küchentisch. Wir sollten uns keine Sorgen um sie machen, es gehe ihr gut. Sie müsse nur mal eben ein neues Leben anfangen.«
    »Das war alles?« Ich konnte mir das nicht wirklich vorstellen. Wenn ich an meine Mutter dachte, da war so was undenkbar. Tobias nickte.
    »Ein paar Monate später«, sagte er, »kam eine Ansichtskarte. Von Sri Lanka. Sie habe dort gefunden, was sie suche. Sie sei nun glücklich, hoffe, dass es uns gut gehe. Sie würde sich später noch mal melden. Seither kriege ich regelmäßig zweimal im Jahr eine Karte von ihr. Zum Geburtstag und zu Weihnachten. Sie schreibt immer dasselbe. Es geht ihr gut. Vor ein paar Jahren hat sie eine kleine Pension für Touristen aufgemacht.«
    »Hat sie noch mehr Kinder bekommen?«, fragte ich. Tobias schüttelte den Kopf.
    »Ich hab keine Ahnung, wie sie lebt. Ich weiß auch nicht, was für ein Typ sie ist. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ich war fünf Jahre alt, als sie wegging.«
    »Hast du ihr nie geantwortet?«
    »Nein«, sagte er entschieden. »Und ich werde es auch niemals tun.«
    Er setzte sich auf. Ohne drüber nachzudenken, hatte er die Hand von meinem Bein genommen. Jetzt war der Augenblick gekommen: Er hatte mir seine empfindlichste Stelle gezeigt. Die Stelle, die ihm am meisten wehtat, die er am liebsten nicht berührte. Nun wurde es Zeit, dass ich das Gleiche tat. Ich holte mein Bein unter der Decke hervor. Obwohl es der einzig richtige Zeitpunkt dafür war, war es noch immer total schwer – wie ein extremer körperlicher Schmerz. Trotzdem bemühte ich mich zu lächeln. Ich glaube, es gelang mir sogar. Tobias sah mich an. Zuerst mein Gesicht, dann mein Bein, dann wieder mein Gesicht. Dann legte er die Hand zurück auf das Bein.
    Diesmal ließ ich zu, dass er es streichelte. Er tat es ganz sanft.
    »Du kannst ruhig fester zugreifen«, sagte ich. »Auch wenn es komisch aussieht: Es tut nicht weh.«
    »Es sieht nicht komisch aus«, sagte er. »Ilka zum Beispiel, bei der stehen an beiden Füßen die kleinen Zehen steil nach oben. Der Grund dafür sind einfach zwei zu kurze Sehnen. Das sieht wirklich komisch aus.«
    Wir lachten ein bisschen. Ich spürte, wie eine Riesenlast von mir abfiel. Dann legten wir uns wieder unter die Decke und küssten uns lange. Ich weiß nicht, wie es plötzlich passiert war, aber oben am Himmel sah man schon die ersten Sterne. Wenn auch noch ziemlich schwach. Aber auch das änderte sich schnell, und sie traten immer klarer hervor.
    »Ich glaube«, sagte ich irgendwann, »du solltest

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