Als Mrs Simpson den König stahl
Oberschicht meinte –, im August in Berlin zu weilen, um dort die zahlreichen olympischen Feste und Bälle zu besuchen. Und Ru
pert Blunt hatte vor, im Sommer schnurstracks nach Deutschland zu reisen, um das Ende seiner Abschlussprüfung in Oxford zu feiern. Er und Bettina hatten die stilvolle Einladung des amerikanischen Bonvivants Chips Channon, Parlamentsabgeordneter und Freund ihres Vaters, angenommen, den Spielen beizuwohnen.
Inmitten all der Fröhlichkeit ihres Aufenthalts bei den Blunts hatte es vereinzelte Momente gegeben, da Evangeline mit ihrer Patentante allein war und an die verborgenen Herausforderungen des Lebens erinnert wurde. Obwohl seit dem Tod von Joans Schwester Grace nun schon fast zwei Jahrzehnte vergangen waren, schwelte Joans Kummer nach wie vor in ihrem Inneren und wurde immer dann sichtbar, wenn ihre Augen plötzlich ihren natürlichen Glanz verloren, als würden sie von einer Staubschicht eingehüllt. Erst kürzlich hatte eine von Joans engsten Freundinnen, Lady Cynthia Asquith, mit Evangeline beim Abendessen darüber gesprochen und ihrer Freude über Evangelines ausgedehnten Besuch Ausdruck verliehen.
»Sie haben ihrem Leben neuen Sinn und Bedeutung gegeben«, erzählte Lady Cynthia Evangeline. »Wir alle machen uns große Sorgen um sie. Sie scheint sich von Graces furchtbarem Tod immer noch nicht erholt zu haben. Grace war ihre Lieblingsschwester, wissen Sie.«
Evangeline nickte voller Anteilnahme.
»Jeder Jahrestag scheint schlimmer zu sein als der zuvor«, fuhr Lady Cynthia fort. »Wir alle hatten gehofft, die Zeit würde ihren Schmerz lindern, aber es will ihr offenbar nicht gelingen. Anscheinend können Männer besser mit ihrem Kummer umgehen. Sie gehen in ihre Clubs und reden unter sich darüber, falls sie denn überhaupt darüber reden.«
»Ich habe gehört, es gab noch eine andere Schwester?«, sagte Evangeline.
»O ja, aber Myrtle hat in Joans Leben nie eine große Rolle gespielt. Sie ist gut fünf Jahre älter, und die beiden sind so ver
schieden. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann Joan sie zuletzt erwähnt hat.«
»Wo ist Myrtle jetzt?«
»Ich glaube, sie lebt allein, irgendwo bei Settle in Yorkshire«, erwiderte Lady Cynthia, »in sicherer Entfernung von London und Cuckmere. So ist Joan meist auf ihre Freundinnen angewiesen.« Lady Cynthia seufzte, und einen Augenblick lang saßen die beiden Frauen schweigend da.
»Das Schlimme ist, dass kaum jemand dem Schicksal entgangen ist, im Krieg einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber wir alle würden daran zerbrechen, wenn wir keine Möglichkeit fänden, diesen Verlust zu akzeptieren.« Nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit fuhr sie fort: »Ich fürchte, Bettina und Rupert lassen sich zu sehr von ihrem eigenen jungen Leben in Anspruch nehmen, als dass es ihnen in den Sinn käme, einen Moment zu erübrigen, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Natürlich tut Philip alles, was er kann, aber er ist so stark in seine Parlamentsarbeit eingebunden. Ruperts Freund in Oxford allerdings, Julian Richardson, ist sehr reizend zu Joan. Haben Sie ihn schon kennengelernt?«
Evangeline nickte. »O ja. Ein ziemlich attraktiver junger Mann, nicht wahr?«, antwortete sie begeistert.
Lady Cynthia hob die Augenbrauen.
»O nein, verstehen Sie mich nicht falsch, Lady Cynthia! Natürlich ist er viel zu jung für mich, um ihm irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken! Ich habe nur eine Bemerkung gemacht; in einem objektiven Sinn, verstehen Sie?«
Lady Cynthia fuhr fort, doch in ihrer Stimme lag jetzt eine gewisse Kälte.
»Nun, offensichtlich wissen Sie, was ich meine. Außerdem sind Sie ja jetzt hier und können helfen, Joan aufzumuntern. Verzeihen Sie mir, wenn ich das so sage, aber dass Sie keinen anspruchsvollen Ehemann haben, um den Sie sich kümmern müssen, halten wir alle für einen zusätzlichen Vorzug.«
Evangeline errötete, entgegnete diesmal aber nichts. Lady Cynthia schien ihr Erröten als ein Zeichen der Freude über das Kompliment aufzufassen.
»Außerdem«, fuhr die Ältere fort, »glaube ich, dass sich sogar die tiefen Falten in Joans Gesicht – wie Schwalbenflügel, habe ich immer gedacht – ein wenig zu glätten scheinen.«
Vorläufig gelang es Evangeline, ihren Unmut über die Erwähnung ihres ledigen Familienstandes zu unterdrücken. Evangeline war Adressatin der uneingeschränkten Beichte ihrer Patentante gewesen. Niemand sonst, nicht einmal Philip, wusste, dass Joan manchmal das Gefühl hatte, in
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