Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)
wenn ich sie nun in Worte kleide. Ich kann kaum glauben, dass ich mich diesem selbst auferlegten Schicksal so einfach hingab. Allerdings denke ich, dass ich damals nicht anders konnte und es wohl so extrem ausleben musste, um irgendwann die Realität zu erkennen und wieder aufzuwachen.
Die Musik, die aus meiner Sicht keiner haben wollte und die mich nach meinen Erfahrungen mit den Plattenfirmen tief in einen Strudel hineingerissen hatte, half mir auf erstaunliche Weise wieder aus diesem Loch heraus. Denn die Kassette, die ich verschickt hatte, hörte ich manchmal auch in dem Behandlungsraum in der Kaserne. Ich war der Radiomusik überdrüssig geworden und unabhängig von der Niederlage, die ich mit meiner Kassette gerade erlitten hatte, mochte ich meinen eigenen Sound doch eigentlich ganz gern.
In der Sanitätsstaffel stand ich noch immer am untersten Ende der Nahrungskette. Dick, unsportlich, niedriger Dienstgrad und auf einer Stelle sitzend, auf der schon mein Vorgänger zur Opferrolle verdammt war. Dem dicken Grafen prophezeite man zur allgemeinen Erheiterung, dass er es allenfalls zu einer Karriere auf dem Rummelplatz – insbesondere im Bereich Autoscooter-Einparken – bringen würde. Ernst genommen wurde ich zu jener Zeit von fast keinem.
An einem Freitag kam dann mein unmittelbarer Vorgesetzter in mein Arbeitszimmer und fragte erstaunt nach der Musik, die aus dem Kassettenrekorder ertönte. Ich erklärte ihm, dass die von mir sei, was ihn umgehend laut aufprusten ließ: »Du Flachpfeife willst Musik machen? So ein Quatsch!«
Ich nahm das Band aus dem Rekorder, steckte es in die Kassettenhülle, auf der ich mir auch ein Artwork gemacht hatte, und hielt es ihm hin. Der Oberfeldwebel schaute mich verdutzt an und nahm meine Kassette mit nach Hause ins Wochenende.
Ab dem darauffolgenden Montag fühlte ich mich in einer völlig neuen Welt. Dieser Vorgesetzte kam irgendwann in den Behandlungsraum, grüßte mich nett, setzte sich zu mir an den Tisch und erklärte, dass er die Musik an jenem Morgen auch einem Teil der Sanitätsstaffel vorgespielt habe. Und restlos alle seien begeistert. Ob ich denn nicht so nett sein könnte, ein paar Kopien dieses Bandes anzufertigen, damit jeder eine dieser Kassetten haben könnte.
Ich war sprachlos. Etwas Ähnliches hatte ich zwar schon einmal während meiner Grundausbildung erlebt, aber beileibe nicht derart extrem. Innerhalb kürzester Zeit wurde aus der Flachpfeife ein Kamerad, der coole Musik machte, und von einem Moment auf den anderen hatten alle Sticheleien, alle Kränkungen und Beleidigungen aufgehört. Die Musik, die »keiner« haben wollte, war nun plötzlich heiß begehrt. Und die Musik, die mich noch vor wenigen Tagen maßlos frustriert hatte, brachte mir nun Anerkennung und Achtung. Und sie gab mir meine Stimme wieder zurück, denn mit einem Schlag war mein Stottern fast vollständig wieder verschwunden.
Manchmal kam mir das alles wie eine Waage vor. Wenn auf der einen Seite Anerkennung in die Schale geworfen wurde, verschwand auf der anderen Seite meine Sprechstörung. Eigentlich ein gut nachvollziehbarer Mechanismus. Aber was, wenn die Anerkennungsschale mal wieder leer blieb? Mein Gebilde war noch immer äußerst fragil und sehr störungsanfällig. Und genau daran musste ich – so war mir klar geworden – in Zukunft noch intensiver arbeiten.
Gleichwohl möchte ich eines nicht verhehlen: So manch einen von meinen sogenannten Kameraden bei der Bundeswehr hätte ich später zu gerne noch mal gesprochen. Bestimmt nicht, um ihnen zu sagen: »Seht her, was aus der Flachpfeife geworden ist!« Darum ging es mir nicht. Nein, ich hätte sie vielmehr gerne einmal gefragt, warum man derart gemein mit anderen Menschen umgehen musste. Ich hätte gerne von ihnen gewusst, wie man ernsthaft glauben konnte, dass man sich selbst besser machen konnte, indem man Schwächere zerstören wollte. Lauter Fragen eigentlich, die man nicht nur bei der Bundeswehr stellen sollte …
Der Lauf des Lebens
Eines Tages kam ein neuer Spieß in unsere Sanitätsstaffel. Ein drahtiger Typ, der zunächst einmal feste Termine einführte, zu denen wir Sport machen mussten. Laufen, Fußball spielen, Fitness. Aus mir, dem athletischen Typen zu Schulzeiten, war ein dicker, phlegmatischer junger Mann geworden. Was dieser Mensch da angekündigt hatte, widerstrebte mir naturgemäß zutiefst. Essen hatte mittlerweile mein Leben bestimmt und war fast schon zu einer Sucht geworden. Ich hatte viele
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