Als Mutter streikte
anzusprechen, dann plauderte sie munter drauflos: über Mr. Rumbolds komische Angewohnheiten, über Cynthias neuen Freund und die Schwächen des neuen Buchhaltungssystems.
Nach kurzer Pause antwortete sie: «Wir müssen das Formular P 74A seit kurzem in fünffach ausfertigen.»
«Tatsächlich?» fragte ich, um etwas zu fragen. «Und wie war es vorher?»
«Dreifach», antwortete sie seufzend. Und damit versiegte die Unterhaltung.
Als wir beim Krämer angelangt waren, sagte sie: «Willst du nicht eine Tasse Tee bei mir trinken? Das wäre nett.»
Wir stiegen also die linoleumbelegte Treppe hinauf. Ich war noch nie in ihrer Wohnung gewesen; sie war so winzig, daß sie schon allein deshalb gemütlich wirkte. Sie war ein Spiegelbild ihrer Bewohnerin. Ein Spruchkalender, eine Reproduktion der van Goghschen Sonnenblumen, ein paar Bände Lyrik, ein paar Taschenbücher, und auf dem Tisch lagen eine Frauenzeitschrift und ein paar Stapel Kirchenblätter, daneben stand eine Vase mit liebevoll arrangierten Zweigen und das Foto eines Mannes, der wie die personifizierte Anständigkeit aussah. «Mein Vater», sagte Miss Buttle. «Das Bild wurde am Tag seiner Pensionierung in der Bank aufgenommen. So, nun setz dich, ich mache uns geschwind eine Tasse Tee.» Und damit verschwand sie hinter dem Vorhang der Kochnische.
Ich ging hinüber zum Fenster. Es war eine ganze Fensterwand, die vom Boden bis zur Decke reichte, was bei einer so kleinen Wohnung überraschte. Die Welt da draußen lag vor einem wie ein riesiges Wandgemälde: Dächer, Schornsteine, Hügel und Bäume. Man hatte das Gefühl, am äußersten Rand einer Plattform über dem geschäftigen Treiben der Straße zu stehen.
Es war faszinierend, den Marktplatz, den ich so gut kannte, von hier aus zu betrachten. Ich konnte sehen, wie Mr. Burrows gegenüber einen Fisch auf die Waage warf und wie die Leute vor den Schaufenstern stehenblieben - und dann: dann sah ich Mr. Chisholm und Gloria lächelnd daherkommen.
Miss Buttle erschien mit dem Tee. Sie trat neben mich und blickte ebenfalls hinunter. «Ach, da sind sie ja schon wieder, die beiden Unzertrennlichen», sagte sie, aber es schwang eine Spur von Bitterkeit in ihren Worten mit.
Es schien, als könne sie den Blick gar nicht von ihnen abwenden. Endlich fiel ihr wieder ein, daß sie einen Gast hatte. «Komm, Viola, setzen wir uns. Der Tee wird sonst kalt», sagte sie. «Zucker, ja?»
11
Am Mittwoch dachte ich nicht mehr an meinen und Miss Buttles Kummer: ich ging mit Johnnie Wrighton zum Halloween-Tanz. Mit meinen Tanzkünsten war es nicht weit her, aber auch Johnnie war alles andere als ein flotter Tänzer. Jedesmal wenn er mir auf die Füße trat, bat er mich zerknirscht um Verzeihung. Richtig rührend. In seinem dunklen Anzug sah er aus wie ein kleiner Junge im Sonntagsstaat.
Auch von Getränken schien er nicht allzuviel zu verstehen. «Was möchten Sie trinken?» fragte er mit aufmunterndem Lächeln.
Ich verstand natürlich noch weniger davon als er. «Was trinken Sie denn?» fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
«Ich trinke ein Bier.»
«Könnte ich eine Bloody Mary haben?» fragte ich, denn mir war gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß die Heldin in dem Roman, den ich zur Zeit las, das immer trank.
Er ging an die Bar und kam mit den Gläsern zurück. «Wohl bekomm’s», sagte er und blinzelte mir über sein Bierglas hinweg fröhlich zu.
Ich hatte irgendwo in einer Zeitschrift gelesen, daß man sich in den feinen Kreisen wortlos zutrinkt. Ich hob also mein Glas, lächelte zurückhaltend und trank dann einen Schluck. «Schmeckt sehr gut», sagte ich erfreut, «genauso wie Tomatensaft.»
Mein Glas war bald geleert, und Johnnie sagte: «Darf ich Ihnen noch eins holen?»
Ich trank also noch eine Bloody Mary. Dann tanzten wir, und auf einmal ging es sehr viel besser. Vielleicht hatten wir uns inzwischen eingetanzt. Mir war, als tanzte ich auf Wolken.
Wir gingen an unseren Tisch zurück. Johnnie war so nett. Alle Leute waren so nett. Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt.
Der Saal wurde jetzt immer voller. Doktor Rodgers, der auch gekommen war, sah fabelhaft aus in seinem Smoking. Nach und nach erblickte ich lauter vertraute Gesichter. Da war ja auch
Agnes Buttle mit ihrer Freundin Miss Crayshaw, die mit ihr im gleichen Büro arbeitete. «Miss Buttle!» rief ich und winkte. «Huhu! Miss Buttle!»
Lachend kamen die beiden zu uns herüber. Johnnie erhob sich, und ich machte sie mit ihm bekannt.
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