Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
für einen.
Sophie hat zum Geburtstag ein kleines Buch geschenkt bekommen. Ich helfe ihr beim Auswickeln und lese laut vor: »Mein kleiner Hund Erwin.« Ich schlucke. Es hört einfach nicht auf.
Ich blättere durch die Seiten. Erwin trifft auf das Kaninchen Sophie und später dann auf Maulwurf Maier. Das gibt es doch gar nicht. Erwin und Sophie, Maier und Erwin. Meine Brust schnürt sich zusammen. Erwin heißt der Mann, den ich nicht kenne und der mich nie kennenlernen wollte, dessen Haare, Augen und Tierliebe ich aber besitze. Erwin heißt mein Erzeuger. Obwohl er und meine Mutter einst verheiratet waren, ist er nicht mehr als das. Ein Erzeuger. Er hat mir zum Leben verholfen, aber er hat mir nie geholfen zu leben.
Ich lehne Erwin für mich ab. Das habe ich schon immer getan. Ich war nicht sauer auf ihn, obwohl ich gekonnt hätte. Schließlich hat er uns beide im Stich gelassen. Ich wollte ihn nicht sehen, obwohl es eine Adresse gab. Ich habe einfach immer gesagt: »Ich habe doch einen Papa. Ich brauche den nicht.« An dieser Erwinsache hängt nämlich noch ein ziemlich großer Rattenschwanz in Form von sechs oder sieben weiteren Kindern, die dieser Mann vor und nach mir gezeugt hat. Die will ich auch nicht sehen. Ich brauche meine kleine heile Welt mit Mama, Papa, Schwester. Doch hat ein Erzeuger ein Anrecht darauf zu erfahren, wenn er Großvater wird? Als Sophie begann, es sich in ihrer Fruchtblase bequem zu machen, stand es plötzlich vor mir. Das Thema war wieder da und noch dazu stärker als je zuvor.
Wenn ich meine Mutter von ihm reden höre, spüre ich in jedem Satz, dass sie ihre Worte weise wählt. Bis heute will sie diese Gefühle nie wieder hochkochen lassen. Und bis heute möchte sie mir mein Urteil nicht vorwegnehmen. Das ist nett gemeint. Aber natürlich habe ich schon eines. Und das ist kein gutes.
Vielleicht sollte ich ihm doch ein Ultraschallbild schicken. Vielleicht hat er es doch verdient, in den Kreis der Wissenden aufgenommen zu werden und zu erfahren, dass er es geschafft hat, seine Gene noch eine weitere Generation fortleben zu lassen. Die Adresse steht mit grünem Fineliner geschrieben auf einem kleinen Zettel in meinem Portmonnaie. Sie ist das Einzige, was ich von ihm besitze. Sie wartet da.
Zum Ende der Schwangerschaft bringe ich Fotos zum Entwickeln. Ich bestelle eines mehr, als ich benötige. Meine Mutter hat gesagt, dass es sie schon interessieren würde, wie Erwin inzwischen ist. Doch ich denke an meinen Papa Stefan. Er ist mein einzig wahrer Papa. Der, der mir einen Lutscher gegeben hat, als ich gegen den Schrank gerannt bin. Der, dem ich vertraue, der weiß, wie es mir geht. Aber auch er sagt, dass es in Ordnung wäre, wenn ich Kontakt zu Erwin aufnehmen würde. Solange der nicht zu Kaffee und Kuchen vorbeikomme. Ich muss es also einsehen. Ich bin es, die letztlich die Entscheidung trifft, ob ich dem Mann, der mir nie etwas Gutes getan hat, von meinem großen Glück erzähle.
Es ändert sich nichts, wenn ich ihm kein Bild schicke. Er weiß nichts, und ich kann ihn weiterhin in meinem Kopf verdrängen beziehungsweise bei Bedarf verteufeln. Wenn ich mich melde, weiß ich zwar endlich, wie ich in männlich aussehen würde, aber es könnte auch passieren, dass ihm plötzlich ein Herz wächst und er in unseren Kreis aufgenommen werden möchte. Und ich bezweifle, dass ich darauf Lust hätte oder dass meine Mama, mein Papa, meine Großeltern oder sonst irgendwer so begeistert davon wären. Und was ist, wenn in mir plötzlich etwas wach wird? Was, wenn mein Mama-Papa-Schwester-Konstrukt plötzlich ins Wanken gerät? Was, wenn er doch ganz nett ist und vielleicht sogar eine Erklärung hat? Was, wenn ich etwas verpasse und unglücklich, verbittert und entwurzelt sterbe? Meine Entscheidung steht, ich kann sie nur noch nicht aussprechen.
Dafür brauche ich noch einen Anschubser. Als Sophie nach der Geburt in meinem Arm liegt, Oscar die Tränen in die Augen steigen und ich verstehe, dass ich nichts verstehe, ist das ein symbiotischer Moment. Wir drei gehören jetzt zusammen. Und da können welche hinzukommen, und irgendwann werden auch welche von uns gehen, doch das ist jetzt das Perfect Match. Uns alle, also auch unsere Eltern und Geschwister, erfasst dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sophie macht, dass wir nach drei Jahren Auszug, Lebenswegfindung und Distanzierung wieder richtig verstehen, was Familie bedeutet. Dieser kleine Schreiwurm lässt uns alle zusammenwachsen.
Ein paar
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