Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
anderen Patchworkfamilien, wo je nach Stimmung des Erzeugers selbiger auftauchte, um sein Kind zu sehen, reichten mir als Warnung. Ich war kurz davor, Erwins Strafaktionen als weise und vorausschauend umzudeuten, wenn Stefan das nicht anders gesehen hätte. Erwin verschwand hinter einem Erinnerungsfenster aus Milchglas. Vielleicht einmal pro Jahr sagte ich zu Hanna: »Was der Erwin wohl macht …« Der Satz war als Möglichkeit gedacht. Wenn sie ihn hätte sehen wollen, ich hätte ihr geholfen, ihn zu finden.
An dem Tag, an dem ich Stefan heiratete, fehlte ein Gast. Es war ein enger Freund von Erwin, er konnte nicht zur Hochzeit kommen, weil er Erwin suchen musste. Denn der hatte just für diesen grauen Novembertag angekündigt, sich auf Rügen vom Kreidefelsen stürzen zu wollen. Natürlich wegen einer anderen Frau. Dieses Ereignis – die Selbstmorddrohung meines Exmannes an jenem Tag, an dem ich im Begriff war, einen anderen Mann zu heiraten – war nichts als ein dummer Zufall, klar. Dennoch, ich habe Erwin übel genommen, dass er mir sogar an diesem Tag über Bande in mein Leben gefunkt hat.
Als die Hochzeit vorbei war, fragte ich Stefan, ob er möglicherweise interessiert sei, meine Tochter Hanna zu adoptieren. Ich hätte die Nase voll von diesem Gestörten, diesem Erwin. Ich wollte die letzte Verbindung kappen, sie war eh nur theoretisch monetär. Stefan reagierte wie der Prinz in der silbernen Rüstung: Genau dasselbe habe er mich auch fragen wollen. Jetzt, wo Kira unterwegs sei, würde er das gern perfekt machen. Und genauso geschah es. Hanna wurde auch amtlich Stefans Tochter. Und sie ist es bis heute.
Als Sophie geboren wurde, dachte ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder ernsthaft über Erwin nach. Er war jetzt Opa geworden, er wusste aber nichts davon. Ich spürte, dass es in Hanna gärte. War das jetzt der Moment, nach ihrem leiblichen Vater zu suchen? Hatte er nicht ein Recht zu erfahren, dass seine Tochter eine Tochter hat? Da wurde etwas wichtig, was wir in unserer neuen Familie immer fein säuberlich weggepackt hatten. Wie so oft half mir meine Neugierde weiter. Ich sagte, dass mich das jetzt aber auch mal interessieren würde, wo der so steckt. Ich hatte über eine der anderen Erwinfrauen seine Adresse bekommen und bot Hanna an, sie hinzufahren und gleich um die Ecke zu warten. Ich habe keine Ahnung, warum sie es schließlich nicht wollte. Ich hoffe, nicht aus Rücksicht mir gegenüber. Denn ganz ehrlich, ich wüsste schon ganz gern, wie schlecht es ihm heute geht. Auch wenn Stefan das anders sieht.
ZUCKER
DIE KINDSMUTTER HAT EINE GUTE IDEE, WIE SOPHIE EINE SELBSTBESTIMMTE ZUCKERKONSUMENTIN WIRD.UND DIE OMA LACHT
»Weißt du«, sagt Hanna, »wir überlegen gerade, ob wir Sophie einfach auch Süßes essen lassen.« Oh, denke ich, ist das nicht ein bisschen früh für eine Einjährige? Bei Sophie kommen doch gerade erst die kleinen Zähnchen mit den aparten Sägeblättern aus dem Kiefer. Sagen tue ich aber nur: »Ach so?« Ja, meint Hanna, Oscars und ihre Theorie sei bestechend simpel: Eine Sophie, die Schokolade haben kann, wenn sie das will, wird folgerichtig niemals süchtig nach Schokolade. »Ach so«, sage ich. Und ich denke: Lustig, dass sich alles wiederholt.
Kaum etwas nehmen wir unseren Eltern im Nachhinein so übel wie das Verknappen von Süßem. Sei es Schokolade oder das fünfte Stück Pflaumenkuchen – in unserer Erinnerung sitzen die omnipotenten Erwachsenen auf einem riesigen Berg aus Schokolade mit Pflaumenkuchenausläufern, den sie mit spitzen Ermahnungen und Strafandrohungen gegen uns Kinder verteidigen. Wenn es ihnen doch mal beliebt, reichen sie uns einen Krümel von ihrem bescheuerten Zuckerberg herab, und wir sind auch noch dankbar dafür. Dabei sehen wir sie doch: die großen Kuchenstücke, die sich die Erwachsenen selbst in den Mund schieben, die zusammengeknüllten leeren Schokopapiere im Mülleimer. Hingegen wir? Zwei Stückchen vor dem Zähneputzen. Pah! Dies ist der Moment, in dem wir uns vornehmen: Sollten wir jemals Kinder bekommen, würden wir sie nicht derartig leiden lassen.
Zwanzig, dreißig Jahre später sind sie dann da, unsere Kinder. Ein Wunderwerk der Evolution. Wir sehen unter der zarten Haut die winzigen Blutgefäße, wir spüren ihren puckernden Puls, wir schauen in ihre klaren Augen, schnuppern in ihren kleinen Rosenmund und riechen ihren duftenden Atem. Dieser Körper ist ein Geschenk, denken wir, wir werden gut auf ihn achtgeben. Und das
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