Als schliefe sie
. .
»Komm her, ich will dir etwas verraten.«
Den Rücken an den schrägen Stamm gelehnt, presst sich Milia gegen den Baum. Sie hebt den rechten Arm, lässt die Hand über einen blütenschweren Zweig wandern.
»Genau das macht mich wild«, sagt er, auf ihren Arm zeigend. »Da, an der Stelle, will ich dich mit den Lippen berühren.«
»Wehe! Komm ja nicht näher! Man wird uns sehen!«
»Du bist wie eine Silberakazie. Nur einen einzigen Kuss«, sagt er, macht einen Satz auf sie zu, legt den Arm um ihre Taille und zieht sie an sich.
»Aua!«, schreit sie.
»Schreien Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist«, sagte die Krankenschwester.
Milia öffnete die Augen und sah nichts als Weiß.
»Warum riecht die Silberakazie auf einmal so?«, rief sie entsetzt. »Ich ersticke.«
»Schließen Sie die Augen, und atmen Sie tief ein. Das ist Chloroform. Es lindert die Schmerzen«, sagte die Stimme, deren Quelle Milia nicht auszumachen vermochte.
Das Weiß verfliegt. Die kleine Milia rennt durch dunkle Straßen. Die Stimme hallt abgehackt durch die Nacht. Als Antwort dringt aus der Kehle der Frau leises Gewimmer, das kurz darauf versiegt.
»Lasst sie. Sie braucht Ruhe«, hörte Milia den Arzt zu den Schwestern sagen.
Woher kommt das Glockengeläut?
»Das ist Fladenbrot mit Labna, Onkel. Lass mich los. Ich will essen.«
Milia wusste, dass die Geschichte ihres Onkels nicht erzählt werden durfte. Mitri, einziger Sohn neben zwei Töchtern, starb erhängt an der Kirchenglocke. Keiner traute sich, ihn loszubinden, bis Nakhla aus dem Haus gerannt kam. »Sie haben ihn ermordet«, schrie Nakhla, als er seinen Sohn an dem langen Glockenseil baumeln sah. Er bat die jungen Männer aus dem Viertel, mit anzupacken und Mitris Hals – nun dünn wie ein Bindfaden – aus der Schlinge zu befreien.
Mitri steigt aus dem großen Foto an der weißen Wand in Nakhla Schalhûbs Haus. Milia sieht ihn heraussteigen. Es ist, als sei das Bild in dem vergoldeten Holzrahmen zu einem Fenster geworden. Der Onkel mit rotem Tarbûsch, weißer Seidenabâja über dem runden Bauch und Bambusstock in der Hand, steigt über den Holzrahmen, klettert hinab und schreitet durch das Haus. Er kommt auf Milia zu und umarmt sie. In dem Moment breitet sich der Geruch von Labna und Zwiebeln aus. Das kleine Mädchen spürt, dass er sie gleich in ferne Gefilde entführt. Mitri hebt sie vom Boden und steigt mit ihr in den Bilderrahmen. Den rechten Fuß voraus, springt er, wie um einen Fluss zu überqueren.
»Gib Acht, Mädchen, dass du nicht in den Fluss fällst.«
»Aber da ist kein Wasser, Onkel.«
Kaum ausgesprochen, hört sie Wasser in ihren kleinen Ohren rauschen.
»Wieso ist der Fluss grün?«, fragt sie.
»Der Fluss ist nicht grün. Deine Augen sind grün. Und deshalb kommt dir alles grün vor.«
»Lass mich bitte runter«, schreit sie.
Milia ruft Mûsa. Mûsa aber steht am anderen Ufer und winkt ihr zu.
»Ich will nicht mit ihm gehen.«
Das Mädchen tritt den Mann mit Füßen. Vergeblich. Er hat sie fest im Griff. Seinen Arm um ihre Taille, setzt er sie auf seinen großen Wanst und geht auf dem Wasser, ohne unterzugehen.
»Siehst du, wie ich auf dem Wasser gehe? Wenn die Suraiq-Jungs wüssten, wer ich bin, hätten sie mir das nicht angetan.«
»Was haben sie getan?«
»Sie haben mich getötet«, sagt er.
»Fünf Männer umstellten mich im Kirchhof. Die Glocke läutete. Sie hatten Küchenmesser dabei und versuchten mich abzustechen. Ich hörte nur noch Glockenläuten. Die Glocke dröhnte mir in Bauch, Augen, Armen und Beinen. Da begriff ich, was Tod bedeutet. Der Tod kommt als Geräusch. Du weißt nicht, wie es dich erwischt. Mich jedenfalls holte die Kirchenglocke.«
»Wie haben sie dich getötet?«
»Die Glocke hat mich getötet. Ich hängte mich an das Seil und hob ab. Das Seil legte sich um meinen Hals. Ich flog immer höher. Wie blöd standen sie unten mit den Messern fuchtelnd, um mir Angst zu machen. Aber wovor hätte ich Angst haben sollen? Ich flog doch.«
»Und warum bist du dann gestorben?«
»Ich bin gestorben, weil ich gestorben bin. Bis heute höre ich die Glocke läuten. Deshalb ziehe ich mir den Tarbûsch so tief über die Ohren. ›Hoch damit!‹, sagte meine Mutter immer. Sie wusste ja nicht, was ich höre. Im Übrigen war sie gar nicht meine Mutter. Ich habe sie nur ›Mutter‹ genannt, weil sie es wollte. Als mein Vater sie heiratete und sie zu uns ins Haus kam, begrüßte ich sie mit den Worten ›herzlich willkommen, Tante
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