Als schliefe sie
Malika‹. ›Nenn mich nicht Tante‹, sagte sie. ›Die Stiefmutter Tante zu nennen zerstört den Haussegen. Nenne mich Mutter.‹ Aber wie hätte sie meine Mutter sein können? Sie war doch ungefähr so alt wie ich. Nein, nicht wirklich so alt wie ich. Vielleicht zehn Jahre älter. Aber sie sah aus wie ein junges Mädchen, trotz Ehe und Kindern. Es war sogar so, dass sie statt älter zu werden immer jünger wurde. Sie brachte meine Schwester Saada zur Welt, und fünf Jahre später kam meine Schwester Salma. Man sah ihr nicht an, wenn sie schwanger war, weil ihr Bauch sich kaum rundete. Schlank, klein und hübsch. Ich war fünfzehn, als mein Vater sie heiratete. ›Deine Frau‹, sagte ich zu ihm, ›ist hübsch und noch sehr jung. Wie kannst du da mit ihr…‹ Entsetzt sah er mich an. ›Raus hier‹, brüllte er und warf mich aus dem Haus. Nein. Na ja, er hat mich nicht wirklich rausgeworfen. Aber er gab mir deutlich zu verstehen, dass ich mich rar machen soll. Also habe ich mich verzogen. Ich baute mir eine Hütte im großen Eukalyptusbaum im Garten und schlief immer dort oben. Wenn es regnete, kam Mutter Malika unter den Baum und bekniete mich regelrecht, dass ich ins Haus kommen solle, bis ich irgendwann nachgab. Kaum aber sah mich mein Vater, beäugte er mich merkwürdig, sodass ich mir vorkam wie ein Fremder. Mein Leben lang fühlte ich mich im Haus meines Vaters fremd. Hätte mich Malika nicht aus lauter Mitleid durchgefüttert, wäre ich bestimmt verhungert. Was für eine gute Seele! Das hat mich alles sehr mitgenommen. Meine leibliche Mutter war kaum zwei Monate tot, da ging das Getuschel los. Ein Mann muss heiraten, um Sitte und Anstand zu wahren, hieß es. Arme Nasma. Nasma hieß meine Mutter. Wie ihr Name schon sagt, war sie zart wie eine leichte Brise. Keine Ahnung, warum sie gestorben ist. Eines Morgens wachte sie auf und konnte die Augen nicht öffnen. Ich hörte, wie sie zu Vater sagte, dass sie erschöpft sei und nicht mehr sehen könne. Sie bekam Fieber. Zwei Tage lag sie so da. Dann starb sie. Sie wollte mich sehen. ›Deine Mutter will dich sehen‹, sagten alle. Also ging ich hin. Ich setzte mich zu ihr. Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ich hatte ein Gefühl, als läge meine Hand in einem Eisblock. Trotzdem rührte ich mich nicht von der Stelle. Kurz darauf hörte ich die Frauen weinen. ›Sie ist gestorben‹, sagten sie. Ich versuchte meine Hand aus der ihren zu lösen. Aber es ging nicht. Ihre Hand fühlte sich an wie kaltes Holz. Ich konnte nichts machen. ›Schaut, wie der Junge an seiner Mutter hängt‹, hörte ich die Frauen sagen. ›Er will sie nicht loslassen.‹ Dann erschien mein Vater. ›Steh auf, Junge, und geh hinaus‹, sagte er. Er kam zu mir, packte mich bei der Schulter und zog mich hinaus. Auf einmal brach großes Geschrei aus. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls wurde meine Mutter mitgezogen.
›Lass ihre Hand los‹, brüllte Vater.
Ich konnte vor lauter Tränen keinen Ton sagen. Es ist furchtbar, wenn man aus der Kehle weint. Die Tränen laufen in die Kehle, sammeln sich dort, und die Worte kommen nicht mehr heraus.
Vater zog mich am Arm, Mutter wurde mitgeschleift, um uns herum Gekreische. Dann auf einmal, keine Ahnung, woher sie kam, platzte unvermittelt meine Stimme aus mir heraus. »Aua, meine Hand«, schrie ich. Ich sah, wie er an Mutters Fingern herumzerrte, um den Griff zu lösen, und dabei weinte wie ein kleines Kind. ›Verzeih mir, meine liebe Frau‹, schluchzte er. Danach kam Malika und wurde meine Mutter.«
»Und deine Hand? Wie haben sie deine Hand befreit?«
»Die Glocke läutet immerzu in meinen Ohren. Milia, meine Liebe, sag ihnen, dass sie aufhören sollen zu läuten. Ich will zur Ruhe kommen.«
»Gut, lass mich hinunter.«
»Das kann ich nicht. Wenn ich dich nämlich hinunterlasse, stirbst du.«
»Ich will sterben«, schrie Milia.
Mansûr stand neben ihrem Bett, hörte wie sie »ich will sterben« schrie und rannte zu den beiden Krankenschwestern, die im Flur plaudernd auf den italienischen Arzt warteten.
»Milia stirbt, Hilfe!«
Die eine Krankenschwester schaute ihre Doppelgängerin an, lächelte und wandte sich dann Mansûr zu. »Keine Sorge«, beschwichtigte sie ihn. »Das sagen alle, und am Ende geht doch alles gut.«
Mansûr sah, dass Milias Hals schweißgebadet war. Er nahm ihre Hand und bat sie, die Augen zu öffnen. Milia drehte sich der Stimme zu, öffnete die Augen einen Spalt breit und gab Mansûr mit einem Handzeichen zu
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