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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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hinabbeugen, sie muss ihm die Tränen fortwischen, ihn vom Kind zum Mann erwecken.
    Als sie sich aber hinabbeugt und die Hand nach ihm ausstreckt, stößt er sie mit aller Kraft weg und baut sich vor dem Bild auf.
    Sie schaut in die Richtung, in die er schaut, und sieht Mansûrs Bild, gespiegelt neben Milias Bild, das an den Spiegel genagelt ist. Statt ihren Mann mit seinem Namen anzusprechen, schreit sie: »Warum hast du sie umgebracht, Mûsa?«
    Während Mansûr noch mit dem italienischen Arzt sprach, ging Milia an jenem Tag schnurstracks aus dem Krankenhaus und ließ sich von ihren Füßen lenken. In dem Wunsch, den libanesischen Mönch zu treffen, lief sie durch Straßen und Gassen, ohne aber auf die geringste Spur von Tanjûs zu stoßen. Schließlich setzte sie sich auf einen Stein bei der Jungfrauenquelle, schloss die Augen und sah.
    Fragt sie nicht, was sie gesehen hat, denn sie kann nicht sprechen. Es war das Wunder, auf das sie seit jenem rätselhaften visionsartigen Traum wartete, der sie, ihrem Schicksal entgegen, nach Nazareth geführt hat. Hatte Tanjûs ihr nicht gesagt, wie es dem Zimmermann ergangen war? Dass er die Sprache verlor, als er sich seiner jungfräulichen Frau näherte und von ihrer Schwangerschaft erfuhr? Er hatte sie zur Rede stellen wollen. Doch seine Zunge hatte ihm wie ein Stück Holz im Mund gelegen. Statt aber seiner Wut und Verletzung Ausdruck zu verleihen, war er in einen komaähnlichen Zustand gefallen. Ein Engel war erschienen und hatte ihn aufgeklärt über den Anfang der Geschichte, die Josef allerdings erst begreifen sollte, als der Junge sie ihm unter dem Olivenbaum zu Ende erzählte.
    Josef der Zimmermann sei laut Tanjûs auch »der stumme Heilige« genannt worden. Zwar habe er sich, als sein Sohn ihm die Geschichte erzählte, dazu geäußert. Seine restlichen Tage auf Erden aber habe er mehr oder weniger schweigend verlebt. Nur das Nötigste habe er gesagt. Denn offensichtlich hatte er erkannt, dass er sich die Worte für das Ende aufheben müsse. Für die Zeit, wenn er seinen Sohn suchen sollte, unmittelbar bevor er in den Himmel geholt würde.
    Ist es wahr? Hat Milia die heilige Nonne tatsächlich gesehen?
    Müde und schmerzgekrümmt saß sie da. Sie versuchte zu sprechen, doch es gelang ihr nicht. Der italienische Arzt, unsicher, was er mit ihr tun sollte, wandte sich an die Krankenschwester und sagte etwas auf Italienisch, was der Patientin verschlossen blieb. Und kurz darauf begann die Reise in die geheimnisvolle Welt der Geburt.
    Die Sprache schwand, und die Nonne erschien.
    Die Nonne spricht mit Tanjûs’ Stimme. Sie müsse verhindern, sagt sie zu Milia, dass Mansûr den Jungen nach Jaffa bringt.
    »Hadscha Mîlâna, bitte«, will Milia flehen. In dem Augenblick hört sie die beklommene Stimme ihrer Mutter. Die Frau, die bei der Quelle sitzt, hat keine Wahl. Sie muss ihre Sache zu Ende bringen. »Hadscha, bitte, ich will nicht werden wie meine Mutter«, hört sie die Stimme ihrer Mutter aus sich hallen.
    »Aber Schwester! Warum klingt deine Stimme wie seine Stimme? Wo ist Pater Tanjûs? Er hat versprochen, mich in das Geheimnis einzuweihen, und ist dann verschwunden. Und jetzt tauchst du statt seiner auf. Ich habe Angst vor dir. Seit meiner Kindheit habe ich Angst vor dir. Ich will das alles nicht. Ich bin nicht meine Mutter. Meine Mutter ist eine halbe Nonne. Aber ich bin anders. Ich habe Angst um den Jungen. Ich wünsche mir nur eines von Gott. Er soll mich in Frieden lassen. Bitte, lasst mich in Ruhe. Ich gehe nach Jaffa und Schluss. Ich bin müde. Aber richte Tanjûs aus, dass ich ihn sehen will, bevor das Kind kommt. Er soll mich segnen. Das ist alles. Danach kann von mir aus sein, was will. Wo ist Tanjûs?«
    »Ich bin Tanjûs.«
    Milia hört Tanjûs’ Stimme aus dem Körper der Nonne. War das alles reine Einbildung? Warum hat Mansûr erzählt, dass er ins Kloster gegangen ist? Warum hat er die Geschichte von dem libanesischen Mönch erfunden? Wer hat ihr von Josef dem Zimmermann erzählt? War das nichts als ein langer Traum?
    Schwerfällig stand sie auf und ging heim, den Kopf gesenkt, um niemanden zu sehen. Zu Hause angekommen, sah sie ein Foto von sich am Spiegel hängen. Was das Foto da sollte und woher er es hatte, wollte sie Mansûr fragen. Aber ihre Stimme war weg. Sie ging ins Bett, legte den Kopf auf das Kissen und fiel in einen tiefen Schlaf.
    Mûsa kam, denn sie wollte, dass er kommt.
    Sie war allein zu Hause. Dezemberdunkelheit breitete sich in dem

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