Als schliefe sie
verstehen, dass er gehen solle. »Ich habe Durst«, war alles, was sie über die Lippen brachte. Wieder rannte Mansûr zu den Schwestern und bat sie um etwas Wasser für seine Frau.
»Nein, das geht nicht«, sagte die andere Schwester. »Die Betäubung muss wirken, damit der Arzt seine Arbeit machen kann.«
Er habe Durst, sagt er. »Der Tod macht durstig.« Das Glockenseil habe ihn in die Höhe gerissen, sagt er. Der Tod habe ihn übermannt wie eine lange Ohnmacht. Er habe Sankt Elias in seinem Feuerwagen aufsteigen sehen und sich vor ihm gefürchtet. Am liebsten hätte er die Suraiq-Jungs aufgesucht und sich mit ihnen vertragen. »Gut, Jungs«, hätte er gern gesagt. »Schwamm drüber. Wenn ihr wollt, dass wir es schlucken, schlucken wir es eben. Lasst uns wieder Freunde sein.«
Nakhla Schalhûb war allein im Kirchhof. Er habe niemanden gesehen, sagte er zu seiner Frau Malika. »Alle waren verschwunden.« Am dritten Tag nach der Beerdigung seines einzigen Sohnes schloss er mit Abdallah Suraiq und seinen Söhnen Frieden. Er soll, wie es hieß, eine Wiedergutmachung bekommen haben. Seiner Frau gegenüber aber leugnete er, solch eine Zahlung erhalten zu haben.
Mitris Tod an der Kirchenglocke sei, so die Geschichte, der erste tragische Fall dieser Art gewesen, nachdem Bischof Masarra unter großen Anstrengungen einen ausschlaggebenden Erlass der Hohen Pforte erwirkt hatte, der den Kirchen erlaubte, Glocken in ihrem Hof aufzuhängen. Davor hatte man, um die Gebetszeiten anzukündigen, zwei Holzblöcke aneinandergeschlagen. Zur Durchsetzung der Neuerung hatte der russische Konsul wesentlich beigetragen. Er hatte den osmanischen Gouverneur von Beirut dazu gebracht, der griechisch-orthodoxen Gemeinde das Läuten von Glocken zu gestatten. Anfangs hatte das bei den Gläubigen heftige Proteste ausgelöst. Denn viele befürchteten, dieser europäische Brauch könnte vom Gebet ablenken und Jugendliche geradezu einladen, die Kirchhöfe zu stürmen und an den Seilen herumzutollen. Dass eines dieser Seile jedoch zum Galgen werden und dass Mitri Schalhûb, ein Dröhnen in den Ohren, daran erhängt seinem Schöpfer gegenübertreten würde, das wäre niemandem in den Sinn gekommen.
Der gebürtige Beiruter war mit den Suraiq-Jungs aneinandergeraten. Auslöser war ein Scherz, der bei der Arbeit im Beiruter Hafen geäußert wurde, wo sie alle als Lastenträger beschäftigt waren. Nakhla und sein Sohn in der Lagerhalle des Stoffimporteurs Khawâdscha Girgi Dschâhil. Abdallah Suraiq und seine fünf Söhne in der Lagerhalle des Khawâdscha Muhji ad-Dîn Dâ’ûq, der sich auf die Einfuhr von Holz spezialisiert hatte. Der Streit entzündete sich an einer Beleidigung. Allerdings haben Beiruter, wie allgemein bekannt ist, eine Schwäche für Beleidigungen. Beleidigungen sind fester Bestandteil ihres Sprachgebrauchs in jeder Lebenslage. Mit ihnen wird alles zum Ausdruck gebracht: Liebe, Hass, Freundschaft, Feindschaft. Der Inhalt ist nicht von Belang. Wie die Äußerung gemeint ist, verraten Tonfall und Rhythmus.
Die Beleidigung, die Mitri das Leben kostete, war originell und anstößig zugleich. Samîh, Abdallah Suraiqs ältester Sohn, wuchtete gerade ein schweres Holzbrett, als Mitri vorbeikam und sah, wie er sich abrackerte. Unwillkürlich packte er mit an und sagte im Scherz:
»Na, Weichei, du machst doch wohl nicht schlapp!«
»Hände weg!«, zischte Samîh.
Mitri aber ließ nicht los.
»Hände weg, sonst schiebe ich dich in die Fotze deiner Mutter zurück!«, fluchte Samîh.
Von seinem originellen Einfall offenbar selbst überwältigt, wiederholte er den Satz mehrmals in rhythmischem Singsang. Damit war der Streit da. Mitri stürzte sich prügelnd auf Samîh. Samîh legte das Brett ab. Aber nicht, um sich zu wehren, sondern um den Satz noch lauter zu rufen. Die Arbeiter scharten sich um die beiden Männer, versuchten sie zu trennen. Samîh gab keine Ruhe. Unerbittlich wiederholte er den Satz immer wieder, bis Mitri völlig außer sich hinausschleuderte, was im Hafen keiner auszusprechen wagte:
»Verschwinde, du Laura-Söhnchen! Gott erhalte uns die Pharao-Fotze deiner Mutter!«
Er habe damit nichts Böses gemeint, rechtfertigte sich Mitri vor seinem Vater. Er wollte Samîh die Unverschämtheit nur mit gleicher Münze heimzahlen, und da sei ihm das Unaussprechliche herausgerutscht. Suraiq, berühmt für seinen imposanten, hochgezwirbelten Schnurrbart, hatte es nicht leicht. Seine Söhne wurden insgeheim Laura-Söhnchen
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