Als schliefe sie
Großmutter?«
»Keiner hat ihn umgebracht, mein Kind. Glaub ja nicht, was dein Großvater erzählt. Der Altersschwachsinn zeigt sich bei ihm in Gestalt endloser Tränen. Und weinend hat er sich zurechtgesponnen, dass die Suraiq-Jungs Mitri an der Glocke erhängt haben. Gestorben ist der arme Junge vor Angst. Einzig und allein die Angst vor dem Tod führt den Tod herbei. Dein Großvater ist alt. Als ich ihn heiratete, war er zwanzig Jahre älter als ich. Schau ihn dir an. Jetzt ist er vierzig Jahre älter, wenn nicht gar mehr. Gott schenke mir die Kraft und Gelassenheit, ihn zu ertragen. Ich habe ihm gesagt, dass er den Kindern nichts von der Geschichte erzählen soll. Aber im Alter entwickelt sich der Mensch zum Kind zurück und kann irgendwann nur noch mit Kindern reden. Vergiss die Geschichte, mein Kind. Nicht Mitris Geschichte ist entscheidend, sondern meine. Ich habe viel durchgemacht. Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam, einen Witwer zu heiraten.«
Malikas Entscheidung hatte die Leute überrascht. Eine Zwanzigjährige, die einen vierzigjährigen Witwer heiratet. Womöglich, weil er reich war? Von der ganzen Geschichte war Milia vor allem im Gedächtnis haften geblieben, wie Nakhla zusammen mit seinem einzigen Sohn als Lastenträger im Beiruter Hafen arbeitete. Nakhla war eigentlich kein Lastenträger. Und er wäre auch nicht mittellos gestorben. In die Enge hatten ihn »die Dürrejahre« getrieben, wie er jene Zeiten nannte, in denen die Seidenraupen zu hässlichen Maden verkamen. In denen die seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wütende Hungersnot schließlich im Ersten Weltkrieg ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, während die Überlebenden in Scharen auswanderten und nur zurückblieb, wer nicht die Möglichkeit hatte, der Misere zu entfliehen.
Auch Nakhla sah sich von den Umständen in die Enge getrieben und seiner Lebensgrundlage beraubt. Also beschloss er – um 1890 herum – sein Seidengeschäft in der Abd-al-Malik-Straße zu schließen, die Ärmel hochzukrempeln und sich zusammen mit seinem Sohn als Lastenträger zu verdingen. In Wirklichkeit war es so, dass Mitri die Lasten schleppte, Nakhla nur das Geschäft führte. Dann wendete sich das Blatt unverhofft zum Guten. Khawâdscha Aftimus habe, so sagte Nakhla, seine Schulden bezahlt. Damit waren alle Probleme gelöst, und Nakhla eröffnete seinen kleinen Laden wieder. Doch es war zu spät.
Zu spät, weil Mitri erhängt den Tod gefunden hatte. Was vom Leben blieb, war wertlos geworden. Denn Nakhla hatte nicht den Mut, seinen toten Sohn zu rächen. So verkehrten sich mit Mitris Tod die Verhältnisse im Haus, und Malika übernahm das Regiment.
Warum erzählte Milia ihrem Mann dies alles? Um ihn von dem Umzug nach Jaffa abzubringen? Oder wollte sie eine Verbindung herstellen zwischen ihrem Großvater Salîm in seiner Beziehung zu der Ägypterin und dem einschneidenden, lebensverändernden Traum ihrer Tante? Den Namen Aftimus hatte Milia nur ein einziges Mal aus dem Mund ihrer Großmutter Malika gehört. Malika unterhielt sich mit ihrer Tochter Saada. Sie sprach von einem Problem, das durch die Zahlung eines Herrn Aftimus gelöst wurde. »Aftimus? Der gewisse Herr Aftimus?«, fragte Saada. »Dieser Khawâdscha Sergius kommt mir irgendwie ständig in die Quere.«
Dieser Satz blieb dem Mädchen im Gedächtnis hängen. Und nun tauchte er plötzlich wieder auf, zusammen mit Glockengeläut.
»Das interessiert mich nicht«, wollte sie sagen. »Ich bin ich«, wollte sie sagen. »Ich bin weder meine Großmutter noch meine Urgroßmutter. O Gott, die Menschen vermischen sich alle mit mir. Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin.«
»So ist es ihm auch ergangen«, erklärte der Mönch Tanjûs. »Auf dem Weg zur Kreuzigung merkte er, dass er nicht er selbst war. Er spürte, dass alle Menschen Teil von ihm geworden waren. Er versuchte sich an gewisse Dinge zu erinnern und sah alles. Plötzlich war er Mutter, Vater, Dame, Herr, Schaf. Deshalb versagte ihm die Sprache. Hätte er nämlich gesprochen, was hätte er da sagen sollen? Und hätte er etwas gesagt, wer hätte ihn verstanden? Und wäre er verstanden worden, wer hätte ihm geglaubt?«
Milia lief gerade den Weg hinab zur Quelle, als sie diese Worte hörte. Sie spürte, wie der Himmel sich vor ihr auftat, und verstand. Sie verstand, dass sie hergekommen war, um Mitri vor dem Tod zu bewahren. Also nannte sie ihren Sohn im Stillen Mitri. Nein, tatsächlich war ihr als Erstes der Name Îssa in den
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