Als schliefe sie
Sinn gekommen. Er sollte Îssa, also Jesus heißen. Sie wollte Umm an-Nûr, Mutter des Lichts, genannt werden, um den Schutz der Jungfrau Maria zu erlangen. Doch dies wagte sie nicht einmal ihrem Mann zu offenbaren. Also entschied sie sich für Mitri, aus Sorge um ihn. Sie wollte ihn vor der Glocke schützen. Wollte verhindern, dass die Suraiq-Jungs ihn töten. Aber sie war voll Sorge, weil sein Vater ihn nach Jaffa bringen würde und ihn dort nur Krieg und Tod erwarteten. Sie fürchtete sich nicht vor der Geburt, wie Mansûr glaubte. Sie war überzeugt, dass sie, an den Stamm einer Palme gelehnt, hätte gebären können. War überzeugt, dass sie Schwester Mîlâna nicht brauchte, um mit dem Jungen das zu wiederholen, was Mîlâna mit ihr als Neugeborener in dem alten Beiruter Haus getan hatte. Sie würde die Nonne nicht brauchen, um den Jungen in die Höhe zu halten und seinen Schatten an der weißen Krankenhauswand festzuhalten.
»Er heißt Amîn«, bestimmte Mansûr. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Name des Jungen verändert. Milia spürte ein Gefühl der Einsamkeit in sich aufsteigen. Sie hatte sich angewöhnt, das Kind in ihrem Bauch mit seinen beiden Namen anzusprechen. Mit seinem offiziellen, für den sie und Mansûr sich nach ausgiebiger Diskussion entschieden hatten. Dieser lautete Elias nach dem Propheten Elias, dem Unsterblichen, dessen Mysterium Milia erfuhr, als sie ihm in seiner Grotte, in Saidnâja 1 bei Damaskus, einen Besuch abstattete. Dort eingeschlafen, hatte sie den Geschmack der Ewigkeit gekostet, vermischt mit dem Aroma des süßen Damaszener Feigenhonigs, der ihr noch auf der Zunge lag. Der andere Name, mit dem sie ihren Sohn ansprach, war sein geheimer Name, Mitri, in Gedenken an ihren einzigen Onkel, dem sie nur im Traum begegnete. Beide Namen waren mit Amîns Tod in Jaffa auf einen Schlag gestorben. So musste Milia sich, im siebten Monat schwanger, an einen neuen Namen und an ein neues Kind gewöhnen.
»Nein, unmöglich!«, hatte sie abgewehrt, als Mansûr ihr die Namensänderung mitteilte. »Kein Mensch ändert den Namen seines Sohnes. Das ist ein böses Omen. Er heißt Elias«, hatte sie weinend gesagt.
Mansûr aber ließ sich von ihren Tränen nicht umstimmen.
Was war geschehen, und wie? Sonst hatte Mansûr bereits beim Anblick einer einzigen Träne die Fassung verloren. Sie solle nicht weinen, bat er. Er füge sich ihrem Wunsch, sagte er, beugte sich zärtlich über sie und fing die Tränen mit den Fingerspitzen auf. Er besänftigte sie mit Gedichten, die ihm wie Wasser von den Lippen sprudelten und heilend auf ihre Wunden wirkten. Aber Mansûr hatte sich verändert. Er war zu einem anderen Mann geworden. Einem Mann, den sie nicht kannte. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn nicht wiedererkenne, hielt sich aber zurück. Nein, gar nicht wahr. Sie sprach es aus und bereute es anschließend.
Es war das einzige Mal, dass sie einen Traum bereute. Für gewöhnlich nahm sie die Träume, wie sie kamen. Träume begriff sie als eine Art Schicksal. Noch nie hatte sie einen Traum in Zweifel gezogen. Denn der Traum war ihr ein Fenster zur Seele. Zur eigenen und zur Seele anderer Menschen. Sie träume und lebe, sagte sie, wenn er sich wunderte, dass sie sprach wie im Traum.
»Du sollst deinen Träumen nicht glauben«, sagte er.
»Wenn ich ihnen nicht glaube, wem soll ich dann glauben?«
»Glaube mir.«
»Ja, sicher. Aber die Träume erzählen mir, was vor sich geht.«
»Träume sind Einbildungen«, sagte er.
»Und die Gedichte, die du dauernd vorträgst, sind das etwa keine Einbildungen?«
»Poesie ist eine Wahrheit. Sie ist die Musik der Worte und der Bedeutung. Poesie verleiht den Dingen Bedeutung. Weißt du noch, wie ich deinetwegen andauernd unterwegs war? Ich hatte damals immer einen Vers von Ibn Abd Rabbihi 2 im Sinn, in dem ich mich selbst wiedererkannte. Hör:
Der Körper in dem einem, die Seele im anderen Land,
die Seele ist einsam, der Körper unbekannt.«
»Gedichte sind Träume«, sagte Milia. »Unter einem Dichter stelle ich mir jemanden vor, der einen Traum hatte und diesen aufschreibt. Das Gedicht«, erläuterte sie, »überkommt den Dichter wie eine Eingebung. Poesie gehört zur Gattung der Träume. Schau dir nur einmal das Leben der Propheten und Heiligen an. Gott hat immer durch den Traum zu den Menschen gesprochen.
So hat er auch zu Josef dem Zimmermann gesprochen. Den göttlichen Satz ›deine Frau ist schwanger‹ empfing Josef im Schlaf.«
»Aber
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