Als schliefe sie
Händen.
Die Stimme der Nonne klingt rau. »Milia, Schatz, wo ist der Junge? Du musst ins Krankenhaus. Warum bist du noch hier, mein Kind?«
»Aber ich bin im Krankenhaus! Siehst du denn nicht, wie ich leide? Und du? Was machst du hier? Und wer ist die kniende Frau?«
»Das ist die Sünderin, die sich hinkniete und Jesus die Füße salbte. Sie wartet auf dich und deinen Sohn.«
»Sie wartet auf mich?«
Die blonde Frau steht auf, geht zu Salîm, dem Großvater, und umfängt ihn. Wie ein Bild, das sich im Wasser auflöst, verschwindet die Nonne.
Der Großvater, den Milia nie kennengelernt hat, löst sich von seiner Geliebten, geht zu dem kleinen Mädchen und hebt sie auf den Arm.
Schwester Mîlâna steht da, die Hände von sich gestreckt, wie um sich an der Luft festzuhalten. Die Blonde trägt ein schwarzes Bußgewand, sie tritt an Milia heran und drischt auf sie ein. Sie packt das Mädchen beim kurzen krausen Schopf. Die Haare ziehen sich in die Länge. Strähnenweise fallen sie zu Boden. Das Mädchen hat das Gefühl, die Frau will ihr alle Haare ausreißen.
»Hadscha, bitte, ich will nicht sterben!«
Die Nonne steht da und schaut zu. Die kleine Milia rollt über den Boden, hört Gelächter aus der Kehle der Nonne. »Mutter, Hilfe!«, schreit sie.
»Öffnen Sie die Augen!«, sagte der Arzt.
Milia öffnete die Augen.
Tanjûs steht vor ihr. Er nimmt ihre Hand und führt sie zu einer Quelle.
»Das ist die Quelle unserer Lieben Frau«, sagt er. »Trink!«
Milia beugt sich herab und trinkt. Sie trinkt viel, ist nach wie vor durstig. Sie hebt den Kopf. Das Wasser in der gerundeten Handfläche rinnt durch ihre Finger.
»Ich habe immer noch Durst«, sagt sie.
»Trink, so viel du willst. Durstig wirst du dennoch bleiben. Hierher kam Maria, nachdem man ihren Sohn gekreuzigt hatte. Sie stand da, wo du jetzt stehst. Sie weinte, und aus ihren Tränen entsprang eine Quelle. Sie beugte sich über die Quelle, trank von ihren Tränen und blieb durstig. Mit Tränen kann keiner seinen Durst löschen.«
»Sie weint ununterbrochen, schwimmt regelrecht in ihren Tränen«, stellte die kleine Krankenschwester fest.
»Ich weine nicht«, sagt Milia zu Tanjûs. »Warum sollte ich weinen? Ich habe Durst und trinke. Aber woher kommt dieser entsetzliche Durst, Pater?«
»Das ist der Durst der Liebe. Liebe macht durstig. Die Frau hat Durst, weil beim Anblick ihres Sohnes kein Wasser der Welt mehr genügt, um sich satt zu trinken. Diesen Durst lernte die Jungfrau Maria vor dem Kreuz stehend kennen. Und von dem Tag an trank sie ihr Leben lang unentwegt Wasser. Ihr Durst war endlos, weil sie bereute.«
»Was bereute sie?«, fragt Milia.
»Sie bereute, dass sie geglaubt hatte, die schweren Zeiten seien überstanden und die Gefahr gebannt, als Josef der Zimmermann starb. Josef hatte in Träumen und Visionen gelebt. Er hatte einmal gesagt, dass er wie Abraham, Gott segne ihn, ein neues Volk gründen würde. So steht es in dem aramäischen Evangelium, das ich geerbt habe. Die Wahrheit liegt nicht bei mir. Die Wahrheit steht in dem Buch geschrieben. Ich muss dir das Buch zeigen. Komm morgen zu mir in die Höhle. Dann lese ich es dir vor.«
»Aber ich verstehe kein Aramäisch«, sagt sie.
»Das ist unwesentlich«, erwidert Tanjûs. »Wesentlich ist, dass das Buch sich von selbst liest. So habe ich alles lesen können. Als Josef starb, fand die Jungfrau Frieden. Aber die Ärmste hatte keine Ahnung. Sie erfuhr es erst am Schluss. Da war das, was geschehen sollte, bereits geschehen.«
Milia glaubte Mansûr nicht, dass die Nonnen den libanesischen Mönch tatsächlich aus Kirche und Kloster verbannt haben sollten.
»Aber Milia!«, fuhr Mansûr sie an. »Ein Mönch unter Nonnen? Unmöglich! Wenn Nonnen überhaupt einmal einen Mann zu Gesicht bekommen, dann nur außerhalb des Klosters.«
»Aber er ist ein Heiliger!«, sagte Milia.
»Ja, wie die Nonne, von der du mir erzählt hast. Die Nonne, die das Leben deiner Mutter zerstört hat. Das ist keine Heilige!«
»Sie ist sehr wohl eine Heilige. Aber ich mag sie nicht. Man muss ja nicht alle Heiligen mögen. Schließlich hat Gott dem Menschen die Wahl gelassen.«
Der Mönch steht neben dem Halbbett. Auf dem Halbbett liegt eine weiße Frau, die Beine gespreizt, um sie herum zwei Krankenschwestern und ein grauhaariger Arzt. Die kleine Milia steht neben dem Mönch und fragt ihn, wer diese Frau sei und woran sie leide.
»Das bist du, Milia. Wenn du groß bist, gehst du nach Nazareth. Du wirst
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