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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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deinen einzigen Sohn im Italienischen Krankenhaus zur Welt bringen.«
    »Aber ich soll nach Jaffa. Ich will das nicht.«
    »Du wirst nicht dorthin gehen. Keine Sorge.«
    »Wird mein Sohn bei mir bleiben?«
    »Gott beschütze deinen Sohn.«
    Sie sieht ihn. An der Seite seines Vaters geht er durch Nazareths Gassen. Ein Junge, zwölf Jahre alt. Die Augen von Visionen angegriffen. Zitternd lauscht er der Geschichte, die sein Vater erzählt. Der Geschichte von Abraham, Friede sei mit ihm, und seinem Sohn Isaak.
    Gott habe, so sagt Josef der Zimmermann seinen Diener Abraham auf die Probe stellen wollen. Und als der Diener sich gehorsam zeigte, habe Gott den Sohn vor dem Tod gerettet. »Mich wollte Gott auch auf die Probe stellen, durch dich. Ich habe eine Stimme gehört. Sie befahl mir, dich zu töten. Du bist nicht mein Sohn. Wessen Sohn bist du? Ich wollte dich auf den Berg führen und dich Gott als Opfer darbringen. Doch dann kam der Traum und sagte mir, dass der Engel deiner Mutter den Geist Gottes eingehaucht hat.«
    An dem Tag wurde Jesus von Nazareth bewusst, dass ihm das Leid, das Isaak erfahren hatte, erspart geblieben war. Wann immer der Vater auf Abraham und den Opfer-Sohn zu sprechen kam, wurde Jesus von einem Schwächeanfall übermannt. Er konnte die Geschichte, so wie sie in der Thora steht, nicht glauben. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als habe der Vater seinen Sohn auf den Berg geführt, ihn gefesselt, geschlachtet und Gott als Brandopfer dargebracht. Er glaubte, die jüdischen Propheten hätten die Geschichte neu geschrieben, um den Sohn vor seinem Vater zu retten.
    Mansûr mochte die Jesus-Geschichten nicht.
    »Ich bekomme Zustände, wenn ich immer wieder dieselbe Geschichte höre. Bei Poesie ist es völlig anders. Man kann einen Vers unendlich oft wiederholen, und er versetzt einen jedes Mal aufs Neue in Rausch. Geschichten dagegen hört man sich zwei, drei Mal an, dann werden sie öde. Die Jesus-Geschichten öden mich an. Aber was soll ich machen! Ich bin als Christ geboren, so ist es nun einmal. Als ich nach Nazareth zog, habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt ist Schluss. In Gottes Stadt kann kein Mensch leben. Wir gehen nach Jaffa. In die Stadt, die der Dichterfürst, Ahmad Schauqi, einst besucht hat. Gewohnt hat er in dem Viertel Manschîjja, wo er, umgeben von den Honoratioren der Stadt, Gedichte rezitierte.«
    »Die alten arabischen Dichter«, sagte Milia, »hatten neben ihrer Poesie eine Geschichte, die ihnen zur Unsterblichkeit verhalf. Erst durch die Geschichten der Dichter erhält die Poesie Vollkommenheit. Nimm zum Beispiel Imru’u-l-Qais. Aus seiner Dichtung erfährt man nicht, dass er König und Königssohn war. Nicht, dass er die Tochter des Kaisers liebte und ihretwegen gestorben ist. Nicht, dass er ›der Mann mit den Wunden‹ genannt wurde. Und vieles andere auch nicht.«
    »Woher hast du all diese Geschichten?«
    »Ich habe Mûsas Bücher studiert, um ihm beim Lernen zu helfen. Er war unsere einzige Hoffnung. Er sollte das Abitur bestehen, um uns zu ernähren. Nikola und Abdallah heirateten zwei Schwestern, angeblich Prinzessinnen der Familie Abu Lama, schreckliche Weiber! So blieb nur Mûsa übrig. Ich habe ihm zur Seite gestanden, habe tagtäglich mit ihm gepaukt und gebüffelt. Dann kam wie ein Geschenk des Himmels die Anstellung in einem Hotel in Tiberias, wo er ein Jahr lang arbeitete. Anschließend kam er bei der Firma Shell in Beirut unter.«
    Als Mansûr erfuhr, dass Mûsa ein ganzes Jahr in Tiberias gearbeitet hatte, kochte er vor Wut.
    »Jetzt wird mir klar, dass ich hinters Licht geführt worden bin. Warum hat mir Mûsa nichts davon gesagt, dass er in Palästina gelebt hat?«
    »Das weiß ich nicht«, erwiderte Milia. »Alles, was ich weiß, ist, dass er sich in dem Jahr sehr verändert hat. Als er heimkehrte, war er irgendwie seltsam. Ich hatte keinen Zugang mehr zu ihm. Die Sache mit Salîm hat ihn dermaßen aufgebracht, dass er sich schwor, kein Wort mehr mit ihm zu wechseln.«
    Milia hatte keine Ahnung, was ihrem Bruder in Tiberias widerfahren war. Sicher wusste sie nur, dass er als Buchhalter im Schâti’-Hotel am See Genezareth tätig war, das einem Libanesen der Familie Salhab gehörte. Anlässlich seiner Heimkehr kam die Nonne vorbei, um zu erfragen, ob er den berühmten Muscht-Fisch gekostet habe. Jenen Fisch, den einst der Messias und seine Jünger gefischt hatten.
    Die Nonne erzählte allerlei über den Geschmack dieser ihr unbekannten

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