Als schliefe sie
aus.
»Sag, was los ist!«
»Du weißt doch genau, was los ist.«
»Nein, ich weiß es nicht. Also rück schon raus damit!«
»Nichts ist«, sagte sie, drehte sich um und ging aus der Küche ins Wohnzimmer.
Er folgte ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Nimm die Hand da bitte weg!«, sagte sie und drehte sich zu ihm.
»Was ist los? Was habe ich getan?«
»Du bist mir gefolgt.«
»Ich?«
»Ja, du! Ich habe dich gesehen. Statt zu mir zu kommen, hast du dich hinter die Kirchenmauer gestellt.«
»Wann?«
»Ich weiß nicht. Gestern oder vor ein paar Tagen.«
»Wie hast du mich gesehen?«
»Mit dem Rücken.«
»Kein Mensch kann mit dem Rücken sehen.«
Milia schaute ihn eindringlich an. Schlagartig bekam er den gleichen Gesichtsausdruck wie Mûsa. Die Unterlippe zitterte. Tränen hingen ihm in den Wimpern. Sie beugte sich vor, strich ihm mit den Fingerspitzen über die Augen und küsste sie.
»Lüg mich nie wieder an! Versprich, dass du mich nie wieder anlügst. Nun sag schon endlich!«
»Ich verspreche es dir«, sagte Mansûr schuldbewusst.
Er war verunsichert. Auch an diesem Tag sprach sie ihn, wie so oft, mit Mûsa an. Aber diesmal überging er es ausnahmsweise stillschweigend.
»Ich heiße Mansûr. Was drückst du mir ständig den Namen deines Bruders auf?«, wies er sie sonst immer zurecht.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht, weil ich ihn vermisse.«
»Du kannst ihn vermissen, so viel du willst. Schließlich ist er dein Bruder. Aber ich heiße Mansûr. Merk dir das!«
»In Ordnung, Mansûr«, lenkte sie ein. »Ich werde es mir zu Herzen nehmen. Du bist Mansûr.«
Jener Name aber verschwand nie gänzlich. Einmal hörte Mansûr, oder glaubte zumindest, gehört zu haben, wie sie ihn im Schlaf sagte. Er wollte sich ihr gerade nähern, als ihr der Name über die Lippen kam. Unwillkürlich wich er zurück und versuchte zu schlafen. Vergeblich. Also redete er sich ein, bestimmt falsch gehört zu haben, näherte sich ihr von Neuem und nahm sie. Allerdings war ihm seltsam unbehaglich zumute. Die Frau an seiner Seite war ihm fremd. Restlos überfordert, wusste er nicht mehr, wie sie erreichen. Ihre leise Stimme wirkte bedrohlich. Und ihr schläfriger, stets in die Ferne driftender Blick hatte etwas Unnahbares.
An jenem Morgen, als sie über seine Wimpern strich und ihm einen Kuss auf die Augen drückte, fühlte er sich wie ein Kind. Er gestand alles. Dass er sie zufällig gesehen hatte, dass er ihr gefolgt war, dass er heimlich beobachtet hatte, wie sie vor der Kirchtreppe auf dem Stein saß.
»Wie hast du mich gesehen?«
»Mit dem Rücken. Ich sehe nämlich alles im Traum«, sagte sie und erzählte von den vier Himmelsrichtungen im Traum. »Und du? Was träumst du?«, fragte sie.
»Ich träume nicht«, erwiderte er.
»Das kann unmöglich sein«, widersprach sie. »Du erinnerst dich nur nicht an deine Träume. Man muss sein Gedächtnis trainieren. Denn Träume sind die Fortsetzung des wirklichen Lebens. Nachts lebt der Mensch genauso wie am Tag. Und wer sich nicht an seine Träume erinnern kann, lebt nur ein halbes Leben«, erläuterte Milia ihre Traumtheorie und glaubte, ihre Großmutter aus sich sprechen zu hören.
»Bei mir ist das anders«, wehrte Mansûr ab. »Ich träume nie.«
»Jeder Mensch träumt.«
Seit drei Monaten rundeten sich Milias Bauch und Brüste. Ihr Gesicht wurde immer strahlender. Gleichzeitig war sie ständig müde und durstig.
»Warum läufst du eigentlich immer allein draußen herum? Du könntest doch warten, bis ich abends heimkomme, und dann gehen wir zusammen spazieren«, schlug er vor und fragte, ob sie sehr unter der Trennung von ihrer Familie leide.
Wortlos schaute sie ihn an.
»Ich will dem Jungen die Stadt zeigen«, sagte sie unvermittelt.
»Welchem Jungen?«, fragte Mansûr. »Ein Junge wäre schön. Aber ich habe das Gefühl, dass es ein Mädchen ist. Wird eine Frau nämlich in der Schwangerschaft immer hübscher, so die Theorie meiner Mutter, dann trägt sie ein Mädchen im Bauch. Und du wirst eindeutig von Tag zu Tag hübscher.«
»Wenn ich sage, es wird ein Junge, dann wird es auch ein Junge!«
Auf jenem einschneidenden Ausflug ans Meer hatte sie eines erkannt. Im felsigen Becken stehend, die Arme vor dem nackten Oberkörper gekreuzt, erkannte sie, dass sie eine weite Reise angetreten hatte, von der es kein Zurück gab. Diese Wahrheit hatten ihr die knospenden Brüste offenbart. Dann, just in der Nacht darauf, war ihr das Schaf erschienen.
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