Als schliefe sie
So oft hatte sich der Traum danach wiederholt, dass Milia ihn schließlich gar nicht mehr erzählen mochte. Das kleine Schaf war ihr treuer Gast. Monat für Monat kam es zu Besuch. Auch im Wachzustand sah sie es. So leibhaftig und deutlich wie die Wirklichkeit. Ein kleines weißes Schaf. Auf unsicheren Beinen läuft es über eine grüne Wiese. Milia liegt unter einem mächtigen Feigenbaum, die Augen geschlossen und den kleinen dunklen Körper zum Halbkreis eingerollt. Das Schaf kommt auf sie zu, bleibt neben ihr stehen und schmiegt seine Wange an ihre. Milia dreht sich auf den Rücken. Das Tier weicht zurück, rennt dann auf sie zu, klettert mit den Vorderbeinen auf ihre Brust und neigt den Kopf wie zum Grasen. Die Schlafende sieht nichts als Sonne. Das Sonnenlicht dringt durch die Wolle und ergießt sich in ihre nun geöffneten Augen. Das Schaf erkundet mit dem Maul ihre Augen. Milia schließt die Augen aus Sorge, das Tier könnte glauben, ihre grünen Augen seien Gras, und nach ihnen schnappen. Sie schließt die Augen. Sie spürt die Zunge des Schafs am Hals. Sie saugt den Duft der Sonne ein. Das Sonnenschaf zittert. Sein Körper strahlt Wärme aus. Ihr Unterleib schmerzt, um sie herum saftig grünes Gras. Ihre Augen sind geschlossen. Der Schmerz zieht von den Augen zum Steißbein. Sie sieht nichts als Dunkelheit. Sie presst die Augen zusammen, presst noch fester, wacht davon auf. Die Augen bleiben geschlossen. Milia ist wach, traut sich aber nicht, die Augen zu öffnen. Eine Hitzeglocke umhüllt sie. Warmes Blut läuft ihre Schenkel hinab. Sie steht auf, wäscht sich mit kaltem Wasser, legt ein Tuch zwischen die Beine und geht wieder schlafen.
Das Sonnenschaf, wie sie es nannte, erschien stets umgeben von einem strahlend blauen Lichtkranz. Doch jedes Mal war die Szenerie verändert. Mal rannte es über ihren kleinen Körper, der sich plötzlich in ein endlos weites Feld verwandelte. Mal ließ es sich auf ihrer Brust nieder und küsste ihre Schultern. Mal schmiegte es den Kopf an ihren Hals. Aber immer fürchtete Milia um ihre Augen. Eines allerdings war bei den Träumen mit dem Schaf anders als sonst. Beim Erwachen öffnete sie nicht, sondern sie schloss die Augen.
Kaum war Milia schwanger, verschwand das Schaf. Erst Ende Dezember 1947 , als sie, von Wehen und vom Pressen völlig entkräftet, in ihren langen Traum fiel, zeigte sich das Schaf wieder. Sein plötzliches Erscheinen löste in Milia gemischte Gefühle aus. Sie freute sich, es zu sehen. Gleichzeitig war es ihr nicht ganz geheuer. Sie hatte vergessen, dass sie ihre Augen vor dem Schaf schützen musste. Sie öffnete sie, und schon senkten sich dichte weiße Wollbüschel in blauen Lichtkränzen auf ihre Augen.
Neben ihr schlief ein Mann. Er atmete unregelmäßig und pfiff dabei gelegentlich durch die Nase. Milia wischte sich die Spuren der Nebelfahrt aus den Augen und versuchte, ihr Gedächtnis zu ordnen.
Diesen Mann kannte sie nicht. Doch, natürlich kannte sie ihn. Ihr zukünftiger Ehemann war das. Seine Leidenschaft war an ihr vorbeigegangen. Gemerkt hatte sie davon nicht das Geringste. Erst am Tag vor der Hochzeit, in Ansätzen, erfuhr sie von ihm, wie er für sie empfand. Und da stieg in ihr das Gefühl auf, die einzige lohnende Geschichte verpasst zu haben.
Am Vorabend der Hochzeit kam er unangemeldet zu Besuch. Üblicherweise war es so, dass der Bräutigam am Tag vor der Hochzeit von der Bildfläche verschwindet und mit seinen Freunden Abschied vom Junggesellendasein feiert. So nennt sich der letzte zügellose Ausbruch, den sich der Bräutigam leistet, bevor er sich in den Käfig der Ehe begibt. Das jedoch hat Mansûr unterlassen. Aber nicht, weil er dafür zu anständig war, sondern weil er in Beirut keine Freunde hatte. Stattdessen suchte er an jenem kalten Dezemberabend die Schâhîns auf, um seine Familie zu entschuldigen. Wegen der Ereignisse in Palästina, so erklärte er, würden seine Angehörigen nicht zur Hochzeit kommen können. Dennoch sollte die Familie der Braut, darum bat er höflichst, die Hochzeit nicht aufschieben. Beim Gast saßen Mûsa und die Mutter. Indessen kochte Milia in der Küche Kaffee. Mûsa runzelte nachdenklich die Stirn, auch Saada sagte kein Wort. Milia kam mit dem Kaffee herein, stellte das Tablett vor dem Gast auf den Tisch und schenkte vier Tassen ein, während die anderen betreten schwiegen.
»Kein Problem«, sagte sie unvermittelt, als führe sie einen angefangenen Satz zu Ende.
»Kein Problem«,
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