Als schliefe sie
verwundert an. Da begriff Milia, dass nur sie diese Wunde hatte. Als einziges Mädchen unter vier Brüdern durchlebte sie das, was Schwester Mîlâna als die »monatliche Unreinheit« bezeichnete. Der Bauch blähte sich, und schon zogen ihre Brüder sie mit Gemeinheiten wie »Fettmops« und »Tonne« auf. Nur Mûsa stand zu ihr. Sie sei wunderschön, tröstete er sie, als sie nach einer von Salîm angestifteten Hänselei weinend im Garten saß. Sie solle sich, sagte er, ihre Hand haltend, Salîms Gerede nicht zu Herzen nehmen. Sie sei das schönste Mädchen auf der Welt. Milia glaubte ihm nicht, drückte ihm aber einen Kuss zwischen die Augen und lächelte ihn an.
Milia spürte genau, wenn ihre Regel nahte. Daran, dass sie unruhig und gereizt war. Und daran, dass ihr das Schaf nächtelang in den Träumen erschien. Auf die Brust aber sprang es ihr erst zuletzt. In der Nacht, wenn sich das Ziehen bemerkbar machte, das in der linken Beckenhälfte anfing und in die Beine ausstrahlte. Dann wusste sie, dass der Unruheteufel wieder los war.
An dem Tag, an dem sie von der Schaukel fiel und sich das rechte Bein brach, machte Milia eine Entdeckung. Sie entdeckte, dass sie keineswegs mehr das Pummelchen war, das den Spiegel tunlichst mied.
Unmittelbar nach dem Sturz fand sie sich bei den beiden Ärzten wieder. Sawin hob das gebrochene Bein und massierte es mit warmem Öl. Harut stand hinter ihr und hielt ihre Schultern fest. Wie es zu dem Sturz gekommen sei, fragte Sawin. Sie wusste es nicht. War sie gestolpert, als sie, um die Schaukel anzuhalten, die Füße auf den Boden stellte und gleichzeitig den Oberkörper vorbeugte? Oder hatte sie den Halt verloren, als sie – wie sie es häufig tat – in vollem Schwung die Seile losließ?
Milia versuchte sich zu erinnern. Doch es gelang ihr nicht. Ihr war, als glitte sie ins Nichts. Sie hatte das Gefühl, dass Sawins ölige Hand ihr fußwärts die Seele aus dem Leib riss, gleichzeitig den Schmerz packte und in die Schultern beförderte, die von Harut bearbeitet wurden.
Wo war ihre Mutter? Wo war Mûsa?
Milia nahm einen seltsamen Geruch wahr. Der Geruch stand im Raum, hüllte den Schmerz ein, der ihren Knochen entstieg. Was war das für ein Geruch? Weshalb empfand sie jedes Mal beim bloßen Gedanken an den Geruch eine seltsame Mischung aus stummer Lust und Ekel?
Was sie an jenem Tag in Burdsch Hammûd erlebte, konnte sie keinem Menschen erzählen. Aber es ließ sie nicht los, verfolgte sie bis in die Träume. Ihr erschienen rätselhafte Bilder hinter Rauch. Der Rauch steigt aus einem Krug neben ihr, vernebelt ihre Sinne. Angstgeister ergreifen Besitz von ihren Augen. Nikola sah die Angstgeister. Als Einziger sah er sie und begleitete Milia auf ihrem dritten und letzten Arztbesuch. Er nahm dem Geruch, der ihr unablässig in der Nase hing, die Macht. Verflogen war der Geruch aber keineswegs. Er verfolgte Milia weiterhin. Selbst noch als frisch Verheiratete auf der Fahrt durch Schnee und Nebel den Dahr al-Baidar hinauf konnte sie dem Drang nach frischer Luft nicht widerstehen und öffnete das Fenster, obwohl Mansûr auf dem Beifahrersitz vor Kälte schlotterte.
»Fenster zu!«, brüllte der Fahrer.
»Aber der Geruch«, sagte sie.
»Was denn für ein Geruch? So ein Quatsch! Fenster zu! Oder sollen wir erfrieren?«
»Es riecht nach Pastrami«, sagte sie und kurbelte die Scheibe wieder hoch.
»Und Sie, verehrter Bräutigam? Riechen Sie etwa auch Pastrami?«, fragte der Fahrer lachend.
Milia hörte nicht, was Mansûr antwortete. Ihr schwebten die alten Bilder vor Augen. Sie sah sich die Treppe hinaufrobben. Sah sich, an der Küchentür angekommen, nach Mûsa rufen. Doch statt Mûsa erschien die Mutter. Sie lugte hinter einem riesigen, dampfend heißen Kochtopf hervor, der auf dem Petroleumkocher stand. Hals über Kopf stürzte sie zu Milia hin und sah, obwohl es in der Küche recht dunkel war, auf Anhieb, dass das Knie blutete. Unverzüglich rief sie Mûsa und schickte ihn ins Kloster die Nonne holen.
»Wozu die Nonne, Mutter?«
Saada beugte sich über die Wunde und wischte sie mit einem feuchten Tuch sauber. Kaum aber berührte sie das Bein, schrie Milia vor Schmerz auf.
»Gott steh uns bei!«, murmelte die Mutter, trat einen Schritt zurück und bat Milia aufzustehen. Milia richtete sich auf. Doch wie Spieße schoss ihr in dem Moment der Schmerz vom Schienbein hoch in die Augen. Unwillkürlich brach sie in Tränen aus, während sie sich mühsam an der Wand abzustützen
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