Als schliefe sie
umfasst einen Vogel, größer als ihre Hand. Die Nonne befiehlt ihr, in die Asche zu blasen. Hundegebell. Nacht.
Milia schrak auf. Sie saß auf dem Sofa. Der Rücken schweißgebadet. Ihr schauderte.
»Die Nonne fragt, wieso du nicht mit zur Vesper gekommen bist«, bohrte sich ihr die Stimme der Mutter in die Ohren.
»Wo ist Salîm?«, fragte Milia.
»Keine Ahnung. Ich bin gerade erst gekommen, und hier ist außer dir niemand. Schwester Mîlâna hat mir Weihrauch für dich mitgegeben. Du sollst vor der Verlobung jeden Tag räuchern, sagt sie.«
»Welche Verlobung?«
»Gestern haben wir über Salîms Freund Nadschîb, den Anwalt, gesprochen. Er will um deine Hand anhalten, sagt er. Wir wissen doch alle, dass er dich liebt und du ihn.«
»Ich?«
»Ja, du. Oder hängst du etwa noch diesem Bäcker, diesem Wadî’ nach? Mieser Halunke! Unglaublich! Erhebt Ansprüche auf deinen Erbanteil am Haus, bevor er überhaupt mit dir verheiratet ist! Wenigstens ist damit klar geworden, worauf er es abgesehen hatte.«
Saada ging in den Lîwân. Milia war wieder allein im Raum. Das Kinn in die rechte Hand gestützt, ließ sie den Blick in die Ferne schweifen.
Alles ist wieder klar und deutlich da. Der zitternde Vogel in der Hand. Die beiden armenischen Ärzte vor Augen und in der Nase jener Geruch. Das Bild der beiden Ärzte zieht immer von einem schwarzen Schleier verhüllt auf, diffus wie Geister und Schatten. Ein großer, breitschultriger Mann beugt sich über ihr gebrochenes Bein und massiert es mit wulstigen Fingern. Er legt den dicken Daumen auf die schmerzende Stelle. Milia stöhnt vor Schmerzen. Zwei Hände machen sich an ihren Schultern zu schaffen. Sie spürt ein Kribbeln im Nacken. Sie soll das gesunde Bein auf den Stuhl legen, fordert sie der große Breitschultrige auf. Sie streckt das Bein. Dann folgen Gekrabbel, Schmerz. Finger. Geruch. Zwei Männer. Der eine, hinter ihr, hält sie bei den Schultern. Der andere über ihr Bein gebeugt. Das Bein trieft vor Öl. Die Finger des Mannes hinter ihr heben sie. Ihr ist, als hinge sie zwischen zwei Bäumen. Als dringe ihr der Feigenlaubduft ins Fleisch. Sie schließt die Augen. Spürt, wie der Schmerz aus ihrer Wade gezogen wird und wie sie, auf Fingern gebettet, aufschwebt. Plötzlich riecht es durchringend nach Gewürzen, so als würde man im Haus kochen oder mit dem Atem pikante Aromen ausdünsten. Brennend scharfe Gerüche treiben Milia Tränen in die Augen. Sie kann das Gesicht nicht trocknen. Dafür aber sind sofort andere Finger zur Stelle und fangen ihre Tränen auf. Der Arzt, der sich über ihr Bein beugt, reicht ihr ein Taschentuch. Sie nimmt es, schnäuzt sich, und schon ist der Schmerzberg von ihr gewichen.
»Mein Bein fühlt sich an wie ein Berg«, antwortet sie auf die Frage der Mutter nach ihrem Befinden.
Den gleichen Satz wiederholte sie noch zwei Mal. Ein Mal der Nonne gegenüber, die sich, als sie das hörte, sofort abwandte und sie an die Praxis verwies. Und das zweite Mal gegenüber den beiden Ärzten, worauf der breitschultrige Armenier beschwichtigend lächelte und versprach, das Bein von dem Berg zu befreien.
Was hat sich bei den drei Besuchen in der Praxis zugetragen?
Sobald Milia an die Ereignisse zurückdachte, fand sie sich an einem dunklen Ort wieder. Weshalb? Weshalb hat Nikola sie auf ihrem dritten Arztbesuch begleitet und dabei so finster dreingeschaut? Weshalb hat er darauf bestanden, mit ins Behandlungszimmer zu kommen? Der rotgesichtige Arzt, der immer hinter ihr stand, hat sie an dem Tag nicht angerührt. Der Breitschultrige dagegen nahm ihr die Bandage ab und wischte das Bein mit einem ölgetränkten, nach Safran duftenden Tuch ab. Dann bat er sie aufzustehen. Milia stand auf und machte ein paar Schritte.
»Mein Bein fühlt sich schwach an«, sagte sie.
»Hauptsache, es tut nicht weh«, erwiderte der Arzt.
»Es tut nicht weh«, bestimmte Nikola.
Wieder zu Hause, legte Milia das Bein auf das Bett. Mûsa setzte sich zu ihr und massierte das Bein mit der rechten Hand. Seine Berührung gab ihr das Gefühl zu schweben und vertrieb den Geruch.
Milia glaubte nicht, was ihre Mutter über die beiden Ärzte erzählte. Erneut überwältigte sie der Geruch, und sofort sah sie sich im Dunkeln. Das geschah bei dem zweiten Besuch in der Praxis, eine Woche, nachdem das Bein bandagiert worden war. Ihr war, als habe sie ein Loch im Bauch und als versinke ihr Nabel. Der Nabel, der aussah wie eine kleine, vollkommen geschlossene Rosenknospe,
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