Als schliefe sie
aus, wenn du erzählst, was du nachts angeblich alles geträumt hast. Sie hält das nicht mehr aus. Deshalb flüchtet sie aus eurem Haus zu uns ins Kloster. Lass sie in Ruhe. Sie hat doch damit nichts zu tun! Dein Bruder Salîm hat das zu verantworten. Sie trifft keine Schuld an der Sache mit Nadschîb. Hör endlich auf damit, Milia! Du bist wie eine Tochter für mich. Ich habe dich aus dem Bauch deiner Mutter geholt und in die Höhe gehalten, damit du Gott nahe bist. Lass endlich gut sein! Schluss damit! Hörst du?«
Die Nonne ging, ohne Milias Antwort abzuwarten. Dabei hätte Milia einiges zu sagen gehabt. Dass die Nonne Unrecht hatte. Dass sie der Mutter keineswegs jeden Tag ihre Träume erzählte. Dass ihre Träume ihr gehörten. Dass ihre Träume mitnichten Einflüsterungen des Teufels seien, da sie sich sonst wohl kaum bewahrheiten würden. Dass sie ihrer Mutter von dem Traum mit Nadschîb nur erzählt hatte, um zu sagen, dass sie sich von Schmach und Demütigung nicht unterkriegen lassen würde.
Die Nonne ging. Milia stand da, nackt, bloßgestellt in dem Wortschwall, den die Nonne über sie ergossen hatte. Ihr wurde bewusst, dass ihre Träume nicht ihr gehörten. Und dass Saada ihre Geschichte von A bis Z der Nonne verraten hatte.
Es war Nacht. Im Dunkeln lehnte Baum an Baum. Der Regen fiel wie in Bindfäden, immerzu auf die Hausdächer trommelnd. Milia öffnete die Augen, wischte sich den Traum von den Wimpern. Sie merkte, dass sie völlig durchnässt war. Im Lîwân regnete es durch das Dach. Ihr war eiskalt an den Armen. Statt aber aufzustehen, den Teppich vom Boden zu nehmen und Gefäße unter die Löcher in der Decke zu stellen, schloss sie die Augen. Sie glaubte, falsch gesehen zu haben. Und schon war der Traum, den sie soeben gesehen hatte, wieder da. Sie sah sich selbst. Ein kleines Mädchen mit dunkler Haut. Sie sitzt auf einem Felsen. Vor ihr ein tiefes Tal, hinter ihr ein weißes, kirchenähnliches Gebäude. Sie ist allein. Weiß nicht, wo sie ist. Sie lauscht dem Säuseln, das aus dem Tal aufsteigt, und dem Geraschel der wuchernden Pflanzen. Eine Frau mit blauem Tuch auf dem Kopf und langem blauem Kleid kommt auf sie zu.
Die blaue Frau ist aus dem Nichts aufgetaucht. Sie trägt einen Säugling auf dem Arm. Der Säugling ist in ein weißes Tuch gewickelt, das wie ein Leichentuch aussieht. Die Frau legt Milia das Kind in den Arm und verschwindet. Milia, allein, hält das dunkelhäutige, tief atmende Kind. Sein Atem kriecht ihr den Hals hinauf. Sie hebt das Kind, will es an die Brust drücken, sieht seine Augen. Augen fast so groß wie das pausbäckige Gesicht. Milia sieht sich in die Pupillen tauchen und kurz darauf in schwindelerregender Höhe taumeln. Das Kind schaut sie an, zieht sie in seine Augen. Wasser umgibt sie von allen Seiten. Milia versucht, aus dem Nass der Augen zu treten. Sie streckt die Arme aus, hat das Gefühl zu ertrinken. Erschrocken riss sie die Augen auf. Es regnete im Lîwân. Sie fror an den Armen, schloss die Augen, versank wieder in den Augen des dunkelhäutigen Kindes. Solche Augen hatte Milia noch nie gesehen. Riesig, das Weiß klar und wässrig, mitten in dem Weiß je eine große schwarze Pupille. Ein schwarzer Spiegel in einem weißen Spiegel. Das Kind zieht sie in seine Augen. Das kleine Mädchen kann dem Sog der glitzernden Tränen um die großen schwarzen Pupillen nicht widerstehen.
Von lautem Geschrei aus dem Schlaf gerissen, stand Milia auf. Sie solle gefälligst Töpfe unter die Löcher in der Decke stellen, brüllte die Mutter sie an. Milia zitterte am ganzen Leib. Kalter Schweiß stand ihr auf Brüsten und Schenkeln. Ein Gefühl der Sehnsucht tobte in ihr. Eine brennende Sehnsucht. Nein, nicht die gleiche Sehnsucht, die sie nach Nadschîb empfunden hatte, nach einem gewissen Wadî’ oder nach dem Arzt, der ihr gebrochenes Bein behandelt hatte. Diese drei Männer gehörten zu Zunge, Nase, Erinnerung. Sie standen für die Liebe zum Wort, die Liebe zum Duft, die Liebe zum Aufgeschobenen. Jene Sehnsucht aber war etwas völlig anderes. Das Verlangen des Herzens.
Drei Mal hatte sie ihn in der Regennacht gesehen. Sie begriff, dass sie zu ihm gehen musste.
Die Sache mit dem armenischen Arzt hat ihre Jugend getrübt. Mit sechzehn hatte sie sich bei einem Sturz von der Schaukel am Feigenbaum das Bein gebrochen und war von zwei armenischen Ärzten im Burdsch-Hammûd-Viertel behandelt worden. Sawin Hownanian und sein Bruder Harut waren nicht wirklich Ärzte, sondern
Weitere Kostenlose Bücher