Als schliefe sie
auseinanderbreche. Dass sie dann das Gefühl habe, wie auf Glassplittern zu gehen, und die Worte ihr in die Füße schnitten.
»Sag doch etwas!«, forderte Mansûr sie auf.
Ihr haftete der Geschmack von Blut unter der Zunge und in der Nase ein eigenartiger Geruch.
»Was soll ich denn sagen?«, fragte sie, ihren runden Bauch betrachtend.
Sie merkte, dass ihr im Sitzen jeden Moment die Augen zufallen wollten, und stand auf.
»Gehst du schlafen?«, fragte er.
»Lass alles stehen. Ich räume morgen auf. Jetzt bin ich einfach zu müde.«
»Heute wird nicht geschlafen. Jeden Abend sitze ich hier allein, während du schläfst. Und wenn ich mich dir nähere…«
Sie ging ins Schlafzimmer, zog das lange blaue Nachthemd an, legte sich ins Bett und schloss die Lider über dem Knöpfen.
Wie ein Geist verfolgten die beiden armenischen Ärzte Milia bis zuletzt. Was wirklich vorgefallen war, wusste sie nicht. Doch die Geschichte, die ihre Mutter herumerzählte, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gegraben und den Dingen einen rätselhaften und zugleich vertrauten Charakter verliehen.
War alles tatsächlich so vonstatten gegangen? Oder hatten die Dinge sich in ihrem Gedächtnis vermischt und den Behauptungen der heiligen Nonne angepasst. Schwester Mîlâna verfluchte die beiden Ärzte, weil sie das Amt der heiligen Medizin angeblich mit Füßen traten, und fand, dass sie hinter Gittern ihre gerechte Strafe verbüßten.
Unter Tränen schwor Milia bei allen Heiligen, dass nichts geschehen war. Die vier Brüder, im Halbkreis um sie herum sitzend, stellten sie zur Rede. Die Mutter weinte und jammerte in einem fort. Mûsa war verschreckt. Salîm schaute mit finsterer Miene drein. Nikola und Abdallah waren kreidebleich im Gesicht.
Milia behauptete, sich an nichts mehr zu erinnern. Aber nicht, weil sie etwas zu verbergen hatte, sondern weil sie nicht wusste, was sie wie hätte erzählen sollen.
»Da ist nichts passiert«, rechtfertigte sie sich. »Der eine Arzt massierte mein Bein, und der andere stand hinter mir und hielt mich an den Schultern fest.«
»Und dann?«, fragte die Mutter.
»Nichts«, sagte Milia.
Wie hätte sie dieses »Nichts« erklären sollen. Dieses »Nichts« hatte mittlerweile Formen angenommen, die sie nicht beschreiben konnte. Formen, für die sie keine Worte fand.
»Das Problem ist, dass es keine geeigneten Worte gibt«, erklärte sie ihrem Mann und verstummte.
Sie war außerstande zu sagen, was sie empfand. Nämlich, dass Worte sich in ihren Augen wie Decken auf die Dinge legten. Dass sie deshalb nicht verstand. Dass sie, wenn sie Menschen reden hörte, nicht auf Inhalt und Sinn achtete, sondern auf Klang und Form. Dass sie das Gefühl hatte, Worte dienten der Verschleierung.
»Hör diese Verse«, sagte Mansûr.
»Blick auf den Sehnsuchtskranken ohne Grämen,
solang die Liebe dich bedenkt so gut.
Vor Liebe krank schwimmt er in seinen Tränen
wie ein Getöteter in seinem Blut.«
»Gefallen dir die Verse?«, fragte Mansûr. »Warum sagst du nichts?«
Milia stand auf und ging zu Bett. Sie schloss die Augen und sah. Die beiden Ärzte. Sie verschmelzen zu einem Mann mit zwei Köpfen. Alles ist von Weiß überzogen. Das Weiß umhüllt den Mann mit zwei Köpfen. Von seinen Händen berührt, stöhnt das Mädchen. Der Schmerz steigt aus ihrem Bein in die Wirbelsäule.
Nach dem Familienverhör setzte sich Mûsa zu ihr aufs Sofa. Wortlos nahm er ihre Hand. Allmählich senkte sich die Dämmerung und tauchte den Raum in schattenhaftes Halbdunkel. Die Mutter kam herein. Unverständliche Worte murmelnd, nahm sie neben ihrer Tochter Platz, schickte Mûsa hinaus und erzählte die Geschichte.
»Die Nonne ist schuld«, sagte Milia. »Sie war es doch, die uns zum Arzt geschickt hat.«
»Pass auf, was du sagst, mein Kind! Schließlich hat sie mich gewarnt. Wäre die Nonne nicht gewesen, hätte dich Nikola nicht aus ihren Fängen gerettet.«
»Mich gerettet?«
»Selbstverständlich hat er dich gerettet. Lieber tot als entehrt. Das Ganze hätte uns um ein Haar den Ruf gekostet.«
»Aber sie haben nichts getan, Mutter! Ich habe dir alles erzählt. Da ist nichts vorgefallen.«
»Ja, eben. Sie haben nichts getan, weil sie keine Gelegenheit dazu hatten. Aber, dem Himmel sei Dank, ist die Sache nun ans Licht gekommen. Gott bewahre uns vor allem Übel! Das ist das Zeichen für das nahende Ende, mein Kind! Wenn ich nicht für fünf Kinder zu sorgen hätte, würde ich dieser Welt den Rücken kehren und ins Kloster
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