Als schliefe sie
stand unter Wasser. Alles an ihr fühlte sich zart und wässrig an. Der breitschultrige Arzt massierte das Bein. Und der kleine, schmächtige Arzt, dessen Schatten von hinten über sie fiel, hielt sie an Schultern und Rücken fest. Sie stöhnte. Der Arzt an ihrem Bein lächelte. Sie hielt es nicht mehr aus, war drauf und dran, laut aufzuschreien. Doch sie legte sich die Hand auf den Mund.
»Entspann dich«, sagte der Breitschultrige. »Hast du Schmerzen?«, fragte er.
Sie nickte, und unwillkürlich entwich ihr ein Schrei.
»Nicht, Herr Doktor!«, wollte sie sagen, kreischte es aber.
Unmittelbar darauf hörte sie die Schritte ihrer Mutter und das Getrappel ihres kleinen Bruders Mûsa. Der Strudel in ihr beruhigte sich. Dann stand die Mutter neben ihr.
»Was ist, Herr Doktor?«, fragte Saada.
»Fertig«, sagte er und umwickelte das Bein mit einer weißen Bandage. »Bringen Sie ihre Tochter in drei Wochen wieder. Dann entfernen wir die Bandage. Jedenfalls ist alles in bester Ordnung. Auf Wiedersehen.«
Mit den Worten »alles ist in bester Ordnung« im Ohr kehrte Milia heim. Dann war der Geruch wieder da, begleitet von der Vorstellung, dass sie an zwei zusammengewachsenen Schatten lehnt. Die Schatten erschienen ihr im Traum in Gestalt eines Mannes mit zwei Köpfen, einem haarlosen und einem mit dichtem Haar. Sie dringen in das Schlafzimmer ein, legen ihr vier Hände auf Schultern und Beine. Schweißgebadet schreckt sie aus dem Schlaf.
In diesem Traum ist Milia kleiner als die Hand an ihrem Nacken. Um sie herum ist alles dunkel. Sie liegt in verdorrtem Gras, neben ihr ein Wasserbassin. Ihr stecken Dornen im Rücken, aus der Ferne weht Brandgeruch heran. Wie aus dem Nichts tauchen die beiden Männer auf. Sie kommen näher, verschmelzen zu einem Mann mit zwei Köpfen und zwei Hälsen, einem langen und einem kurzen. Die Hände greifen nach dem kleinen, dürren Körper im Gras. Ein wenig Schmerz, Gemurmel. Die Männer reden nicht mit ihr. Sie kommen näher, massieren ihr die Schultern. Entsetzlicher Schmerz überfällt sie. Ein unterdrückter Schrei platzt aus ihr heraus. Sie öffnet die grünen Augen, stellt fest, dass sie in ihrem Bett liegt, angstgequält.
Wie sollte sie ihrer Mutter klarmachen, dass die Geschichte nicht stimme und Schwester Mîlânas Behauptungen zweifelhaft seien?
»Die Heilige lügt nicht«, wehrte die Mutter ab.
»Der Arzt ist ein widerlicher Dreckskerl«, sagte Nikola.
Die Nächte aber offenbarten ihr Dinge, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte.
»Das ist das Geheimnis des Lebens«, erwiderte sie, als Mansûr sie Jahre später fragte, weshalb sie immer tief und fest schlummere, wenn er mit ihr schlief.
»Ich rede mit dir! Wieso gibst du mir keine Antwort?«
»Weil es keine Worte für das gibt, was ich sagen will.«
Solch ein Verhältnis hatte Milia zur Sprache. Nur in einer Situation konnten sie Worte regelrecht verzaubern. Wenn Mansûr Gedichte aus dem Gedächtnis aufsagte. Das aber tat er nie, ohne ein Glas Arrak in der Hand zu schwenken.
»Das ist echter Arrak. Drei Mal destilliert. Dann ist er rein wie Tränen. Schau! Das milchige Weiß an der Glaswand sieht aus wie Nebel. Liebe, Milch und Tränen«, sagte er, schaute sie an und sah, dass das Weiß ihrer Augäpfel bläulich schimmerte.
»Stets kehrt wieder, wer gegangen ist,
denn er, der kommen soll, ist längst fort.«
Genussvoll nippte Mansûr an dem Glas, dass man hätte meinen können, er küsse es.
»Magst du al-Mutanabbi 9 «, fragte er und rezitierte:
»Deine Augen sind der Schmerz, den mein Herz hat
erlitten.
Alles das, was von mir bleibt, darf die Liebe sich
erbitten.
Der Liebe Feuer hab ich nicht gekannt,
doch wer in deine Augen schaut, der ist verbrannt.«
Unzählige Verse alter arabischer Gedichte sprudelten ihm von den Lippen. Liebesgedichte, Weingedichte, Schmäh- und Lobgedichte.
»Ich möchte, dass wir unseren ersten Sohn Amr nennen«, sagte Mansûr.
»Amru ist kein schöner Name«, widersprach Milia.
»Aber nicht doch, Milia! Das ›u‹ am Ende wird nicht ausgesprochen. Es steht da nur, um das ›r‹ etwas abzuschwächen. Ich will unseren Sohn nach dem Dichter Amr bin Kulthûm 10 nennen. Amr gehörte zur herrschenden Familie der Bani Taghlib. Und wäre nicht der Islam gekommen, hätte dieser überaus mächtige Stamm wohl alle Araber unterworfen. Jedenfalls, als Mutter von Amr, würdest du Umm Amr heißen. Und dann könnte ich dich besingen, wie es sich gehört:
Umm Amr, ach, vergebe dir
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