Als schliefe sie
einmal zwölf Jahre alt, verstand nicht das Geringste. Er griff nach Milias Hand und wollte mit ihr ans Meer.
»Warum kommst du nicht mehr mit ans Meer?«
»Frag Salîm. Er hat es mir verboten, weil ich ein Mädchen bin.«
»Ich will auch ein Mädchen werden. Dann brauche ich nicht zur Schule zu gehen und kann bei dir zu Haus bleiben.«
»Nein, mein Kleiner«, sagte Milia und lachte über so viel Unbedarftheit. »Das kann man sich nicht aussuchen. Man bleibt das, was man von Geburt an ist.«
»Möchtest du gern ein Junge sein, damit du ans Meer mitkommen kannst?«
»Ich möchte gern ein Junge sein. Aber nicht nur wegen des Meers. Nein, eigentlich… keine Ahnung. Na ja, so ist das Leben halt.«
Von Mûsa erfuhr sie, dass Mansûr den Wunsch habe, sie zu heiraten. Allerdings müsse sie ja dann fortziehen in eine ferne Stadt, fügte Mûsa hinzu, in den Augen jene eine Frage, auf die es keine Antwort gab. Warum musste die Frau dem Mann ins Unbekannte folgen? Warum um alles auf der Welt? Und nun, nach den beiden gescheiterten Beziehungen, zuerst mit Wadî’, dann mit Nadschîb, war das Leben noch viel unverständlicher geworden. Die Erfahrung mit Wadî’ hatte sie gelehrt, dass Männlichkeit offenbar bedeutete, je nach Bedarf das Gesicht zu wechseln. Mit Nadschîb hatte sie gelernt, was es heißt, wenn ein Mann verzweifelt nach einem Ort sucht, der ihn aufnimmt. Die Frau dagegen muss alles, muss Gesichter und Orte zugleich sein, also im Grunde nichts.
»Salîm ist schuld«, sagte die Mutter.
»Nein, Nadschîb ist schuld«, widersprach Mûsa. »Nadschîb ist ein Feigling. Er braucht jemanden, der sich ständig um ihn kümmert, weil er nicht auf eigenen Füßen stehen kann.«
»Möge Gott ihm vergeben«, sagte Milia und sah die Vögel tot zu Boden fallen. Diesen Traum, den sie »die blinden Vögel« nannte, hat sie keiner Menschenseele je erzählt.
Seit jener Situation mit Nadschîb im Garten unter dem Paternosterbaum hatte sie schreckliche Angst vor den Fledermäusen, die blindlings in die Baumwipfel schossen und mit ihrem Kot die Wände besudelten. Dann folgte der Traum mit den Vögeln, durch den sie als Erste die Wahrheit erfuhr.
Sie ließ Mansûr allein auf dem Balkon und ging zu Bett. Warum sie ihr Leibgericht, das er mittlerweile auch sehr schätzte, gar nicht mehr koche, fragte er. In Palästina und bei den Haurânîs, die aus dem Haurân stammten – oder vom Berg der Araber, wie Mansûr dieses Gebiet in Syrien nannte –, hieß dieses Gericht »Schâkirîjja«. Im Libanon dagegen nannte es sich »Mutters Milch mit Reis«.
Milia liebte vor allem zwei Gerichte, die sie als höchste Errungenschaft der Stadt Beirut auf dem Gebiet der nahöstlichen Kochkunst ansah. »Mutters Milch« und »Kubba arnabîjja«. Als Mansûr zum ersten Mal die »Kubba arnabîjja« kostete, empfand er den Geschmack als recht gewöhnungsbedürftig. Kaum aber hatte er sich gewöhnt, war er wie verzaubert von dieser einmaligen Kreation. Kubbakugeln 12 und Fleischstückchen in einer hell-dunklen Soße aus Tahina und dem Saft von sieben verschiedenen Zitrusarten, darin Zwiebelstreifen und Kichererbsen, so weich gekocht, dass sie fast zerfielen. Mit diesem Gericht machte Milia das Leben in Nazareth zu einer wahren Wonne.
Mansûr war ausgeschlossen aus Milias geheimnis- und traumumwobener Welt. Ausgeschlossen war er bereits seit dem ersten Tag im Masâbki-Hotel in Schtûra. Schon da hatte sich in Milias Erleben so einiges vermischt. Traum und Sex, Bilder von blinden Vögeln mit dem Duft des Paternosterbaums. Das hat sie verwirrt, überfordert. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Also ergab sie sich der Müdigkeit. Sie ließ sich von der Müdigkeit in das tiefe, stille Gewässer tragen, das in ihrem Inneren schlummerte.
Auf der Nebelfahrt den Dahr al-Baidar hinauf rief Milia ihre Träume wach und fand zu sich selbst zurück. Anfangs wusste sie nicht, wie ihr geschah. Im ersten Traum in der Hochzeitsnacht erschien ihr eine Frau, die ihr aufs Haar glich. Eine Frau, vierundzwanzig Jahre alt, liegend in einem weißen Bett, die weiße Haut durchsichtig. Ihre Haut sei durchscheinend wie Wasser, schwärmte Mansûr. Sie sei der Spiegel seines Lebens.
»Jetzt erst begreife ich die arabische Poesie. Jetzt erst lerne ich ihre Schönheit zu genießen«, sagte Mansûr. »Die alten arabischen Poeten, die in der Wüste lebten, haben immer nur Frauen mit weißer Haut besungen. Wahrscheinlich, weil das Weiß für sie ein Fenster war,
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