Als schliefe sie
durch das ihre Seele in die ersehnte Welt entschweben konnte. Die Welt des Schattens, der Kühle, des Schlummers. Denn offenbar weckten nur weiße, halb schlafende Frauen Assoziationen an die Oase. Die Lider dösend zu einem geheimnisvollen Spalt zwischen den Wimpern verengt, vermag eine Frau den Mann in das Labyrinth der Liebe zu entführen.«
»Du bist ja ein wahrer Dichter!«, rief Milia.
»Nein, mein Schatz. Ich merke mir Gedichte gern. Aber ein Dichter möchte ich nicht sein. Als Sohn dieser Sprache mit einer unwahrscheinlich reichen Poesie, in der Ekstase mit Weisheit verschmilzt und die mit der Beziehung zwischen Vokal und Konsonant experimentiert, genügt es mir, Gedichte zu rezitieren, nach Lust und Laune damit zu spielen und mich bei Bedarf am Rhythmus zu berauschen. Ein Dichter dagegen hat ein schweres Los. Auf seinen Schultern lastet das Gewicht aller vorangegangenen Dichtergenerationen. Und weil es kaum möglich ist, die Bürde bereits existierender Gedichte von sich zu schütteln, lauern dem Dichter verschiedenste Gefahren auf. Er bricht zusammen, imitiert oder er begeht Selbstmord.«
An jenem Tag nahm Mansûr zum letzten Mal Abschied von seiner Liebsten in Beirut. Er hatte vor, in die Hauptstadt Galiläas zu fahren, das Haus herzurichten, dann zusammen mit seiner Mutter wiederzukommen und Hochzeit zu halten.
Seine Mutter aber erschien nicht wegen des Aufstands, der in Palästina tobte. So heiratete Mansûr ohne das Beisein seiner Angehörigen. Als der Familienrat sich in jener stürmischen Dezembernacht auflöste und er mit seiner Zukünftigen endlich ungestört zusammensaß, erzählte er ihr von der Farbe Weiß und von der Poesie. Er wollte ihr ein Gedicht aufsagen, erinnerte sich aber nur an den Anfang.
»Hör dir diesen Vers an, Milia«, sagte er.
»Nimm Abschied von Huraira, die Karawane zieht!
Wird brechen dir das Herz, Mann, wenn sie dich nicht mehr ansieht.
Und weißt du, wie das Gedicht weitergeht, Milia? Es ist, als meinte al-A’scha 13 dich!«
»Mich?«
»Na ja, fast. Versuch es zu fühlen. Zu fühlen, dass es um dich geht. Hör:
Strahlende Zähne, sie selbst erhaben und groß.
Wie ein scheues Reh geht sie hier entlang
zum Zelt der Nachbarin, mit wiegendem Schoß
zarte Wolke, mit gemessenem Gang.
Und du, meine Liebste, bist das scheue Reh. Weiß und ängstlich. Nein, nicht wirklich ängstlich, sondern scheinbar ängstlich. ›Weiß‹ und ›erhaben‹ sind keine Gleichnisse, sondern Attribute. Der ängstliche Gang dagegen ist sehr wohl ein Gleichnis. ›Weiß und scheinbar ängstlich‹ heißt in Wirklichkeit ›nicht ängstlich‹.«
»Was ist der Unterschied zwischen ängstlich und scheinbar ängstlich?«, fragte Milia.
»Der Unterschied ist poetischer Natur. So funktioniert das Gleichnis. Etwas weckt Assoziationen an etwas anderes und so weiter.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Milia. »Was ist außerdem der Unterschied zwischen einem Attribut und einem Gleichnis? Was das Wort ›weiß‹ bedeutet, ist mir klar. Das heißt, dass die Farbe des Beschriebenen weiß ist. Das ist ein Nomen. Oder?«
»Nein, mein Schatz. Das ist kein Nomen. Das ist ein Adjektiv. Keine Ahnung, was mit mir geschieht, wenn ich mich mit Poesie beschäftige. Sobald ich ein Gedicht lese, habe ich das Gefühl abzuheben. Es ist, als würde ich mit der Bedeutung davonschweben. Das ist Rausch. Wie soll ich da in der Lage sein, selbst Gedichte zu verfassen?«
»Und der Dichter?«, fragte Milia. »Wie hieß er?«
»Al-A’scha«, erwiderte Mansûr. »Er konnte kaum sehen, deshalb nannte man ihn al-A’scha, den Nachtblinden.«
»Er war blind und konnte die Schönheit der Frauen sehen?«
»Er hat mit dem Herzen gesehen, nicht mit den Augen. In Anwesenheit von Frauen war er gehemmt. So wie ich in deiner.
Huraira sagte, als ich sie besuchen kam,
bange ist mir um dich und bange vor dir.«
Milia hätte gern gewusst, weshalb Mansûr nicht selbst dichtete, traute sich aber nicht zu fragen. Aus Angst. Ihre Angst war allerdings kein Gleichnis, sondern ein Attribut. Milia hatte ihre Entscheidung gefällt, und damit war die Sache beendet. Nein, nicht sie hatte die Entscheidung gefällt. Nadschîb hatte es getan und war mit Salîm fortgegangen. Die Träume verrieten Milia, dass über ihr Schicksal in einer fernen Stadt bestimmt werden würde. Intuitiv verstand sie, dass sie ihr strahlendes Weiß frei strömen lassen musste. In die Hände jenes Fremden, von dem sie nur eines wusste. Dass er Mûsa
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