Als schliefe sie
weiter.
Und nicht zu vergessen: Seit ihre Mutter erkrankt war, hatte auch das Thema Kochen Eingang in ihre Träume gefunden. Sie schneidet gerade Zwiebeln für das Gericht »Mutters Milch«, da tauchen Nikola und Abdallah auf. Ersterer mit seinem, wie immer, leicht nach vorn geneigten Tarbûsch auf dem Kopf. Und Letzterer in Sandalen, die er sommers wie winters trug. Die beiden erzählen, dass sie einen aus dem Irak stammenden assyrischen Magier namens Dr. Schîha besucht haben, der zu einer neuen Religion aufrufe. Abdallah spricht voller Begeisterung von der neuen Religion, die Christentum und Islam vereine. Nikola machte sich darüber lustig. Und die Zwiebelstreifen verwandelten sich flatternd in Vögel.
Milia wusste, dass diese beiden Traumarten nicht von Bedeutung waren. Trotzdem war sie häufig geneigt, sie ernst zu nehmen, was morgens gewisse Schwierigkeiten mit sich brachte. Die Schwierigkeit, sich körperlich auf das Element Luft umzustellen. Denn Träume fühlten sich an wie Wasser. Es war, als schwimme sie in ihrer Augenflüssigkeit. Das aber wagte sie keinem Menschen gegenüber auszusprechen. Die beiden Traumarten verflossen ineinander. Der Traum, der mit dem Einschlummern begann, kehrte am Ende des Schlafs stets wieder und mischte sich in den Traum, der das Erwachen einleitete und wie durch eine Tür aus Wasser und Dunkelheit ans Festland führte. Im Moment des Erwachens verschmolzen beide Träume zu einem, Elemente und Bilder verschwammen zu einem rätselhaften Gemisch, dass Milia sie nicht mehr auseinanderhalten konnte. Verwirrt erwachte sie dann aus dem Schlaf und benahm sich in einer Weise, die für andere nicht nachvollziehbar war.
Was hätte sie Nadschîb erzählen sollen? Etwa, dass sie ihn im Traum gesehen hatte? Gesehen hatte, wie er unter dem Paternosterbaum eine dicke Frau umarmt? Wie die Frau ihre Reize spielen lässt und ihm ihren üppigen Körper aufdrängt? Nadschîb hätte sie bestimmt für verrückt erklärt. Also redete sie sich ein, dass er unschuldig war, und entschied, von dem Traum nicht auf das reale Leben zu schließen. Doch dann tauchten die toten Vögel auf und brachten alles an den Tag.
Die dritte Art bestand aus tiefen Träumen. In solch einem hatte Milia die toten Vögel gesehen und alles über jene Frau, Nadschîbs Zukünftige, erfahren. In den beiden anderen Traumarten bekam Milia ausschließlich andere Personen zu Gesicht, nie sich selbst. Das eigene Bild dagegen, von der Nacht gespiegelt, sah sie nur im tiefen Traum. Jenem Traum, der nicht frei schwebte, sondern gesucht werden musste. Regelrecht tauchen musste sie nach ihm. Und nur dort zeigte sich ihr das dunkelhäutige Mädchen mit grünen Augen, das durch die Gassen der Nacht irrte und Träume im Dunkeln vergrub. Diesen Traum hat Milia keiner Menschenseele je anvertraut. Denn er gehörte nicht ihr. Nein, er gehörte dem Mädchen, in das sie schlüpfte und mit dem sie durch die nächtlichen Gefilde flog. Dann zerfiel alles und zerstob.
Die Vögel bevölkerten den tiefen Traum. Mitten in einem Wald von himmelwärts strebenden Pinien sah Milia sich selbst. Das dunkle Mädchen steht unter einer riesigen, Schatten werfenden Pinie. Gleißende Sonne. Messinggeschmack brennt ihr auf Lippen und Zunge. Dann taucht er auf. In französischer Militäruniform rennt Nadschîb durch den Wald. Offenbar auf der Flucht vor ihr. Sie winkt ihm zu. Will, dass er stehen bleibt. Doch er rennt weiter, irrt umher. Wie blind stößt er gegen Bäume. Sie steht da, reglos. Rührt sich nicht von der Stelle. Angst lähmt sie. Wie festgeklebt haften ihre Füße am Boden. Schwärme von Vögeln rücken an. Der Himmel wimmelt von Vögeln. Die Sonne ist verdeckt. Wie Spatzen sehen die Vögel aus. Absonderlich schnell flitzen sie durch die Luft, prallen zusammen und fallen herab. Die Flügel angelegt, fallen sie tot herab. Der Boden ist von Tod bedeckt. Plötzlich ist Nadschîb verschwunden. Die kleine Milia steht allein in der Sonne. Dunkle Wolken ziehen herauf. Sterbende Vögel. Milias Beine sind wie gelähmt. Sie breitet die Arme aus und fällt. Sie will Nadschîb rufen, will ihn um Hilfe bitten. Vergeblich. Die Stimme erstirbt in ihrer Kehle. Nadschîb ist fort. Mit zitterndem Herzen legt ein Vogel die Flügel an. Doch er prallt nicht auf den Boden. Die Erde reißt auf. Die Risse werden immer tiefer und breiter, wachsen zu Schluchten an. Der kleine Vogel hängt im Nichts.
Milia riss die Augen auf, hatte entsetzlichen Durst. Sie griff nach dem
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