Als schliefe sie
legte die Hand auf meinen Bauch. Ich spürte, wie mein Bauch sich zu runden begann, immer mehr, bis ich eine pralle Kugel war. Sie nahm die Hand weg. Ich drehte mich um, und da war meine Großmutter. Aber ohne Zähne. Ich fürchtete mich früher immer vor meiner Großmutter, wenn sie das Gebiss herausnahm und ins Wasserglas legte. Ihr Gebiss war höchst seltsam. Es bestand nicht aus zwei, sondern aus vier oder fünf Teilen. Das Glas brachte mich aus der Fassung. Wasser und darin ein Gebiss. Das Gebiss sah aus, als würde es an dem Glas hochklettern. ›Warum hast du die Prothese herausgenommen, Oma?‹, fragte ich. ›Damit ich besser mit dir reden kann‹, sagte sie. ›Oma, bitte, setz die Zähne wieder ein. So verstehe ich dich nicht‹, bat ich sie. ›Ich kann nicht‹, sagte sie. ›Der Mensch soll im Traum nicht mit seinen Zähnen spielen.‹ ›Aber du bist doch tot, Oma!‹, sagte ich. ›Was mit mir ist, spielt keine Rolle. Wichtig bist einzig und allein du, mein Kind‹, sagte sie. ›Aber du bist doch schon lange tot.‹ Sie lachte. Mit aufgerissenem Mund lachte sie. Außerdem sagte sie etwas. Aber ich verstand nichts. Denn sie sprach sehr leise. Doch, ein Wort habe ich verstanden: Junge. ›Was für ein Junge?‹, fragte ich. ›Das wirst du schon noch erfahren‹, antwortete sie. ›Ich habe Angst‹, sagte ich und griff mit der Hand nach dem Glas, um das Gebiss herauszuholen. Sie schlug mir auf die Finger. Ich fing an zu weinen. Als Oma Malika starb, habe ich schrecklich geweint. Alle dachten, ich sei traurig, weil ich ihr kleiner Liebling war. Aber das stimmt nicht. Ja, doch, natürlich habe ich geweint, weil ich sie lieb hatte. Aber der eigentliche Grund für meine Tränen war, dass man ihr das Gebiss nicht eingesetzt hatte. Ich fragte meine Mutter nach dem Gebiss. Völlig außer mir rannte ich in die Küche und meine Mutter mir hinterher. ›Beruhige dich, mein Kind‹, sagte sie. Aber ich habe mich nicht beruhigt, sondern wie von Sinnen überall nach dem Gebiss gesucht. Ich kroch unter den Tisch. Kletterte hoch zu den Küchenschränken und durchwühlte sogar den Vorratsschrank. ›Wir haben das Gebiss weggeworfen‹, gab meine Mutter schließlich zu. ›Was heißt weggeworfen? Wo ist es jetzt?‹ ›Im Abfall.‹ ›Warum?‹ ›Weil es Sünde ist, Tote mit Prothese zu beerdigen. Der Tote muss vor seinen Schöpfer treten, wie er erschaffen wurde.‹ ›Im Abfall?‹, schrie ich entsetzt und durchstöberte die Mülltonne. Doch ich fand das Gebiss nicht. Nein, damals habe ich es nicht gefunden. Gestern beim Ertrinken aber fand ich es endlich. Nein, oder war das in einem anderen Traum? Mein Gott, in letzter Zeit bringe ich alles durcheinander. Ich weiß gar nichts mehr. Nicht warum, nicht wann, nicht wie. Jedenfalls bin ich mit dem Gebiss in der Hand auf meine Großmutter zugegangen. Aber sie war dann plötzlich verschwunden. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wohin sie gegangen ist. Und was ich mit dem Gebiss machen sollte, war mir auch nicht klar. Um mich herum saßen lauter weinende Frauen. Dann bin ich gefallen. Wie das kam, weiß ich nicht. Ich saß mit baumelnden Beinen in einem Mispelbaum und aß grüne, saure Mispeln. Dann fiel ich plötzlich und schlug mir die Zähne am Boden aus. Ich legte meine Hand auf den Mund und hatte das Gefühl, das Gebiss meiner Großmutter zu tragen. Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an Wasser, Augen und Tränen. In Strömen liefen den Frauen die Tränen und tropften auf den Boden. Ich sah, wie meine Großmutter ertrank, und fing an zu weinen. Ich griff nach ihrer Hand, bekam sie aber nicht zu fassen. Mir war, als würde auch ich ertrinken. Was dann passierte, weiß ich nicht. Alles war blau. Ich lag im Bett. Das Bett glich einem Wasserbassin. Meine Oma saß neben mir. Sie legte mir die Hand auf den Bauch und gab mir die Ikone. Ich betrachtete die blaue Frau. Sie schien aus der Ikone zu steigen. ›Oma‹, sagte ich, ›diese Frau hat mir die Hand auf den Bauch gelegt, und kurz darauf fing mein Bauch an zu wachsen.‹ ›Es wird ein Junge‹, prophezeite meine Großmutter. ›Wir müssen ihn Michael nennen nach dem Kloster, in dem Schwester Mîlâna lebt, damit mich die Nonne in ihre Gebete einschließt.‹ ›Nein, ich werde ihn Îssa 15 nennen. Sein Name ist Îssa. Er heißt genau wie der Messias, weil die blaue Frau es so möchte.‹ Ich öffnete die Augen, stieg aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Ich wusch mir das Gesicht,
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