Als schliefe sie
Tawîla-Markt. Und da habe ich sie gesehen. Salîm hat sich hinter den Frauen versteckt. Nein, es war anders. Ich lief die Straße entlang. Es war dunkel, und es regnete. Ich rutschte aus. Klitschnass rappelte ich mich hoch, und während ich mir das Wasser von den Kleidern klopfte, sah ich sie. Nadschîb hatte die Dicke untergehakt, und Salîm lief hinter ihnen her. Er schien sie einholen zu wollen, es aber nicht zu schaffen. Dann fiel er hin. Sie schauten zurück und kümmerten sich nicht um ihn. Völlig durchnässt lag er auf der Straße. Ich wollte zu ihm gehen und ihm auf die Beine helfen. Doch in dem Moment drehte sich Nadschîb um. Ich erschrak und rannte davon. Ich habe gesehen, wie Nadschîb die Dicke küsste. Sie haben gelacht, und ich habe geweint.«
Mûsa schloss die Augen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Für mich ist Salîm gestorben und Schluss. Ich muss ihn vergessen. Und du musst ihn auch vergessen.«
Tränen kullerten Milia auf die Wangen. Mûsa beugte sich zu ihr herab und strich ihr über die Augen. Er sah ein kleines Mädchen. Und er sah sich. Sah sich die tränennassen Augen küssen und zurückweichen.
»Weine nicht«, hörte er sie sagen. »Die Sache ist es nicht wert, mein Kleiner. Es ist besser so. Dann wird eben nichts daraus. Auch gut. Wenn die beiden an der Universität versagt haben und unbedingt als Schreiner arbeiten wollen, verstehe ich nicht, wieso Salîm dann nicht bei Nikola und Abdallah im Geschäft einsteigt. Und was Nadschîb mit Schreinerei am Hut hat, ist mir schleierhaft. Bei Salîm kann man noch nachvollziehen, dass er Tischler wird. Immerhin ist er Sohn eines Tischlers. Aber Nadschîb? Was verbindet ihn mit diesem Beruf? Seit wann hat er einen Bezug dazu? Und dieser Vater! Was ist das nur für ein Vater, der seine Töchter um jeden Preis unter die Haube bringen will? Ich frage mich, was die beiden in Aleppo wollen? Diese Entscheidung werden sie bestimmt noch bitter bereuen!«
Hat Milia die Geschichte so erzählt, wie sie sich zugetragen hatte? Natürlich nicht. Kein Mensch kann ein Ereignis, was Inhalt und chronologische Abfolge angeht, wahrheitsgetreu wiedergeben. Denn das würde einem abverlangen, dass man sich sein ganzes Leben mit der Rekonstruktion einer einzigen Geschichte beschäftigt. Milia hat so manches ausgelassen. Sie verriet nichts von ihrer Liebe zu Nadschîb. Nichts von ihrer Begeisterung für seine Anekdoten. Nichts von den geheimnisvollen Gefühlen, die ihre Seele und ihren Körper beherrschten. Gefühle, wie sie sie erst gestern wieder verspürt hat, als ihr bewusst wurde, dass sie schwanger war.
»Mich trifft keine Schuld«, schloss Milia.
»Aber hast du dich in ihn verliebt?«, fragte Mansûr.
»Ich habe mich nie in jemanden verliebt«, erwiderte sie.
»Und was ist mit mir?«
»Bei dir ist es etwas anderes.«
»Was heißt etwas anderes?«
»Das heißt, du bist mein Mann.«
»Ich will wissen, ob du mich liebst.«
»Sicher tue ich das. Welche Frau liebt ihren Mann nicht?«
An dem Tag, an dem sie schwanger wurde und ihrem Körper erlaubte, sich nach Belieben zu runden, hatte sie das Empfinden, niemanden mehr zu brauchen. Das Leben in ihrem Bauch gab ihr das Gefühl, mehr als nur eine Person zu sein.
»Ich habe niemanden getäuscht. Er hat mich getäuscht. Mein Bruder hat mich getäuscht. Meine Mutter hat mich getäuscht. Ich war völlig ahnungslos. Was hätte ich also tun sollen?«
Als sie im dritten Monat ganz und gar in ihrer Zweisamkeit aufgegangen war, vergegenwärtigte sie sich im Traum die kleine Milia und machte eine Entdeckung. Sie entdeckte, dass ihre Einsamkeit und Traurigkeit eine andere Ursache hatten, als sie glaubte. Sie rührten zwar von einer Sehnsucht. Aber nicht von der Sehnsucht nach ihrer Mutter und nach Mûsa. Nein, sie sehnte sich vielmehr nach der kleinen, dunklen Milia, die ihre Nächte belebt, ihr Leben erhellt und ihr die Fähigkeit beschert hatte, die Welt im Glanz des aus ihren Augen strahlenden Lichtes zu sehen.
Nach wie vor schlief Milia immer, wenn Mansûr sich ihr näherte. Mittlerweile aber verspürte sie einen Schwindel. Einen Schwindel, der ihre Quelle zum Übersprudeln brachte. Er habe gesehen, wie sie lächelte, behauptete er einmal. Sie glaubte ihm nicht. Denn im Zimmer war es dunkel. Und der Mond hatte in jener Nacht nicht geschienen. Also hatte sein Licht keineswegs durch das Fenster hereinfallen und ihr Gesicht erhellen können. Das Fenster war genau vor ihrem Bett. Aus diesem Grund hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher