Als schliefe sie
allein der Name schon nach einer Herausforderung klingt. Weißt du, was in der Thora steht? ›Du sollst das Kalb nicht in der Muttermilch baden.‹ Deshalb essen unsere Vetter, die Juden, kein in Butter gekochtes Fleisch.«
»Sie haben Recht«, sagte Milia. »Auch ich werde künftig Rindfleisch nicht mehr in Joghurt kochen. Das ist barbarisch.«
»Wieso barbarisch? Red keinen Unsinn! Mutters Milch ist das großartigste Gericht überhaupt. Und wir werden es essen bis in alle Ewigkeit.«
Mansûr trank Arrak und aß dazu Joghurt. Das habe außer ihm noch keiner getan, prahlte er. Milch mit Milch. Löwenmilch, wie Arrak auch heißt, mit Kuhmilch. »Milch mit Milch gemischt, und der Mensch fühlt sich wie ein Säugling am Busen des Himmels.«
Dann ging er dazu über, Gedichte zu rezitieren. Wie konnte er sich diese unzähligen Verse merken? Wo nahm er all diese neuen Verse her, die er dem täglichen Wortschwall hinzufügte?
Milia liebte ihn, liebte seine Worte und liebte seine Liebe zu ihr. Allmählich hatte sie sich an den Alltag in Nazareth und das Dreieck von Haus, Straße und Traum gewöhnt. Dann aber kam eines Tages die Nachricht, die ihr Leben erschütterte und ihr abverlangte, eine andere Person kennen und lieben zu lernen, als sie darauf nicht mehr vorbereitet war.
Mansûr schlug ihr vor, das Kind in Beirut zur Welt zu bringen, um ihre Mutter dabeizuhaben, verwarf den Gedanken aber, eh Milia sich äußern konnte. Alles zu seiner Zeit, sagte er. Schließlich sei die Lage sehr angespannt, und er wolle weder ihr Leben noch das des Kindes in ihrem Bauch gefährden. Deshalb schlug er vor, die Mutter nach Nazareth einzuladen. Milia lehnte beide Vorschläge ab. Nach Beirut wolle sie nicht gehen, denn sie sei extra nach Nazareth gekommen, um das Kind hier zur Welt zu bringen. Und die chronisch kranke Mutter sollte nicht kommen, weil sie am Ende womöglich noch gepflegt werden müsste.
Schon immer, also seit sie denken konnte, fühlte sich Milia als mutterlose Mutter ihrer Mutter. Nein, sie verzichtete auf Beirut und die Mutter. Das Kind sollte hier zur Welt kommen, weil es danach verlangte. Einen einzigen Wunsch hatte sie. Sie wollte das Kind treffen, das ihr im Traum erschien. Das sie mit großen, scheinbar wimperlosen Augen aus der Wasserblase, in der es schwamm, ansah und ihr die Geschichte erzählte. Die Geschichte, die kein Mensch je gehört hatte.
Die Nachricht kam, und ab dem Zeitpunkt war alles anders. Sie begriff, dass Mansûr vor seinem Bruder zu ihr geflüchtet war, dass Amîn ihn nun erfolgreich zurückholte, dass sie in der Sache nicht mitzubestimmen hatte und dass sie am Ende wohl oder übel nach Jaffa würde ziehen müssen.
Jaffa war nicht Beirut. Al-Manschîjja war nicht der Burdsch-Platz. Und die feuchte Luft, die einem hier ins Gesicht schlug, hatte nichts mit dem feuchten Dunst von fauligem Laub zu tun, der einem in Beirut um die Nase wehte. Nach Jaffa war sie gereist, um an Amîns Beerdigung teilzunehmen. Und dort sah sie das Land, das sich Palästina nennt. In Beirut hatte sie das Land nicht gesehen. Auch wenn sie über die Befreiung von der französischen Mandatsmacht große Freude empfunden hatte, so befasste sie sich mit der Sache nicht weiter. Von Faisal I. und seinem in Damaskus gegründeten Königreich, das bis nach Beirut reichte, hatte sie zum ersten Mal von Mansûr gehört. Im Masâbki-Hotel, als er sie zu sich rief und ihr das Foto zeigte, auf dem ein Mann mit zerstreutem Blick, der König Syriens, abgelichtet war.
In Nazareth lebte sie außerhalb der Zeit. Die Stadt brodelte. Das aber merkte sie nicht. Die einzige Person, zu der sie Kontakt hatte, war Mansûrs Tante, Frau Malvina Srûdschi, die nur ein Gesprächsthema kannte: der Mann, der ihre Tochter Nadja geheiratet hatte. »Der Ersatz für Mansûr, sagen die Leute. Ein Jammer! Meine armes Töchterchen, du hättest lieber deinen Cousin Mansûr heiraten sollen. Na ja, Schicksal!« So musste die Jungvermählte aus Beirut Mitgefühl mit der Frau an den Tag legen, die noch immer ihrem Traum von Mansûr als Schwiegersohn nachhing.
Dann trat ein alter Mann in Milias Leben, der sich als Nachfahre des Prinzen Fakhr ad-Din II al-Maani 4 ausgab. Anfangs hatte Milia Angst, gewöhnte sich aber bald an ihn. Sie fragte Tante Malvina, wer das sei. Der verrückte Tanjûs, der vor langer Zeit aus Nazareth fortgezogen sei, lautete die Antwort. Doch er war nicht verrückt. Milia wusste nicht, wie sie diesen Mann hätte beschreiben sollen. Eine
Weitere Kostenlose Bücher