Als schliefe sie
seltsame Gestalt in Mönchsgewand, auf dem Kopf eine Filzkappe, wie die Bauern im Libanongebirge sie trugen, und um die Taille eine palästinensische Kûfijja in Schwarz-Weiß geschlungen. »Ich bin allein«, sagte er zu Milia in palästinensischem Dialekt, versuchte seinen Worten durch die Dehnung gewisser Laute aber einen libanesischen Klang zu geben. Nachts erschien er kurz vor ihrem Fenster und verschwand dann wieder. Und morgens folgte er ihr auf ihren Streifzügen durch die Stadt.
Während sie durch die engen Gassen schlendernd ihren neuen Wohnort erkundete, erlebte Milia ihre Nazarener Geschichte. Der Ort verkörperte die Ehrfurcht, die er gebot. So verstand sie ihre Beziehung zu der Stadt Jesu. Auf ihren Spaziergängen sah sie den alten Mann und gab ihm ein paar Münzen in der Annahme, er sei ein Bettler. Tanjûs nahm die Geldstücke ohne ein Wort des Dankes, so als erfülle sie nichts als ihre Pflicht. Irgendwann ging Milia dazu über, ihm Brot und Essen mitzubringen. Genauer gesagt, lud sie ihn nach Hause ein. Ihn hereinzubitten traute sie sich nicht. Sie servierte ihm das Essen im Garten und sah ihm dabei zu. Er schien nicht wirklich zu essen. Ohne das Essen auch nur eines Blickes zu würdigen, schlang er es widerwillig in sich hinein, wischte sich mit der roten Handfläche über Schnurr- und Vollbart und ging. Dass sie den Alten eingeladen hatte, verriet sie Mansûr nicht. Er sei von sich aus gekommen, sagte sie stattdessen und erzählte eine Geschichte, die sich nicht ereignet hatte, von der sie aber glaubte, irgendwie habe sie stattgefunden.
»Und wo war ich?«, fragte Mansûr.
»Du hast drinnen geschlafen«, erwiderte Milia. »Ich habe versucht, dich zu wecken, aber du warst nicht wach zu bekommen. Er stand plötzlich vor dem Fenster und sagte, dass er hungrig sei. Und seither kommt er gelegentlich.«
Was Milia sagte, entsprach nicht der Wahrheit. Vielmehr war es so, dass der Alte, wenn Mansûr abwesend war, jede Nacht ans Fenster klopfte. Seit Mansûr häufig nach Jaffa fuhr, wo er die Schlosserei übernommen hatte, weil sein Bruder getötet worden war, hatte sich alles verändert. Mansûr war nur noch selten in Nazareth. Milia schlief meist allein im Haus. Sie hatte keine Angst. Aber sie hatte Ehrfurcht vor der Nacht, Ehrfurcht vor der Einsamkeit, Ehrfurcht vor dem Kind in ihrem Bauch. Eines Nachts hörte sie ein Klopfen am Fenster. Immerzu klopfte es. Sie stand auf und sah den Schatten eines Mannes hinter einem Baum verschwinden. Sie legte sich wieder ins Bett, deckte sich zu und wartete. In der folgenden Nacht wiederholte sich die Szene. Die dritte Nacht dagegen verlief anders. Es war zehn Uhr. Alles war ruhig im griechischen Viertel, so hieß das Viertel, in dem das Haus stand. Es klopfte heftig an die Scheibe. Milia trat ans Fenster und sah den Schatten eines Mannes.
»Wer ist da?«, fragte sie zitternd.
»Ich«, antwortete die Gestalt draußen. »Mach auf, ich habe ein Geschenk für dich.«
Woher sie den Mut hatte, das Fenster zu öffnen, war ihr ein Rätsel. Es war seltsam. Es war, als sei sie nicht sie selbst gewesen. Als habe sie geschlafen. Als habe ihr jemand einen Befehl erteilt, den sie blind befolgte. Sie öffnete und sah den Mann. Er hielt ein Glas Wein in der Hand. Er reichte es ihr und kündigte seine Wiederkehr an.
»Das ist das Wasser des Lebens«, sagte er und verschwand.
Sie sah ihn nicht gehen, sah nicht seinen Rücken. Er stand da, von Dunkelheit umgeben, die ihn im nächsten Moment verschluckte.
Das kleine Mädchen sah sich selbst. Allein, mit dickem Bauch steht sie vor dem Fenster, in der Hand ein Glas, bis an den Rand mit einer roten Flüssigkeit gefüllt. Sie hebt es an die Nase, riecht alten Wein. Sie berührt das Glas mit den Lippen, trinkt aber nicht. Sie tritt ans Fenster, will es schließen. Es ist bereits geschlossen. Sie ruft Mansûr. Keine Antwort. Sie sieht Mûsa. Er kommt auf sie zu. Sie will ihn fragen, was ihn hierherführt. Mûsa nimmt ihr das Glas aus der Hand und trinkt es bis auf den letzten Tropfen aus. Er reicht ihr das leere Glas. Dunkelheit senkt sich auf Mûsa, wischt ihn fort. Das Mädchen sieht sich selbst. Sie hält ein leeres Glas, steht allein da. Sie weicht zurück, taucht in die Dunkelheit. Die Dunkelheit wird von einem Lichtschein durchbrochen. Sie hält das Licht in Händen. Das Glas glitzert. Plötzlich, ohne zu wissen, wie ihr geschieht, gleitet das Glas aus ihren Fingern und zerbricht. Sie bückt sich, will die Scherben aufheben.
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