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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elias Khoury
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mit ihren Kindern und der Alten ein Dasein abhängig vom Wohlwollen Mansûrs fristen, jenes Mannes also, der aus Jaffa geflohen war und seinen Bruder dem Tod überlassen hatte.
    Dort, auf dem Sandhügel mit Ausblick auf das Meer, beobachtete Milia, wie sich Mansûr veränderte. Mansûr stand zusammen mit den anderen Trauernden auf dem Friedhof am Meer, auf dem die Haurânis ihre Toten seit tausend Jahren beisetzten. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stieß die Mutter, dem Märtyrer zu Ehren, aus heiserer Kehle einen Jubeltriller aus. Und da verwandelte sich Mansûr vor Milias Augen. Wie geschrumpft wirkte er auf einmal, klein und gedrungen. Milia konnte nicht beschreiben, was geschehen war. Aber sie meinte, gesehen zu haben, wie die Gelenke sich zusammenschoben und sein Körper zu einem steifen Block wurde. Geweint hatte er in Nazareth. Eine Art Heulen war aus ihm herausgebrochen. Explosionsartig waren ihm alle Tränen der Welt aus den Augen geschossen. Doch als er das Haus in Jaffa betrat und die vielen Frauen um die von Kugeln durchsiebte Leiche seines Bruders stehen sah, hatte er nicht geweint. Nein, stattdessen hatte sich sein Gesicht zu einer furchterregenden Fratze verzogen. Er hatte sich über den Toten gebeugt, wollte ihm einen Kuss auf die Stirn drücken, verlor den Halt und fiel mit dem Gesicht auf das Kissen, Wange an Wange mit Amîn. Die Frauen schrien auf.
    Sie habe Tränen über das Gesicht des Toten rinnen sehen, sagte die Mutter. »O weh, er klagt über sich selbst.«
    Es seien Mansûrs Tränen gewesen, behauptete Asma dagegen. »Er darf nicht Tränen auf Amîns Gesicht tropfen lassen. Das ist Sünde!«
    Dieser Satz rief Milia die Geschichte des Dichters Dîk al-Dschinn aus Hims 5 in Erinnerung. Er hatte seine Liebste getötet, hatte sich Tränen auf ihr Gesicht vergießen sehen und folgende Verse verfasst:

    Ich sehe sie vor mir, den Tod schon im Blick,
    das Verderben ist ihre Ernte – es gibt kein Zurück.
    Der Boden getränkt mit ihrem Blut,
    ihre Lippen benetzt mit meiner Liebe Glut.
    Mein Schwert stach zu in rachdurstigem Verlangen,
    meine Tränen rinnen über ihr Gesicht.
    Bei den Sandalen, mit denen sie über den Boden gegangen!
    Etwas Kostbareres als ihre Schuhe gibt es nicht.

    Milia verstand den Sinn der Geschichte nicht. Was war das für eine Liebe? Besagter Dichter aus Hims liebte zwei Menschen. Eine Christin namens Ward und einen jungen Mann namens Bakr. Milia glaubte nicht, was Mansûr über die Sitten und Gebräuche der abbasidischen Epoche gesagt hatte. Damals galt, so Mansûrs Worte, die Liebe eines Mannes zu einem Mann nicht als sittenwidrig, sofern der Geliebte noch keinen Bartwuchs hatte und hübsch aussah. Dîk al-Dschinn, mit Ward verheiratet, ließ Bakr im ehelichen Haus mitwohnen. Von einer Reise zurückgekehrt, wurde ihm zugetragen, dass Bakr sich in seiner Abwesenheit in Ward verliebt und mit ihr geschlafen hatte. Außer sich vor Wut, tötete Dîk al-Dschinn beide.
    »Doch das ist nicht die eigentliche Geschichte«, sagte Mansûr. »Die eigentliche Geschichte beginnt da, wo Dîk al-Dschinn herausfindet, dass die ganze Sache erstunken und erlogen war. Dass Ward ihn gar nicht betrogen hatte. Da ging er ans Grab und nahm zwei Handvoll Erde auf. Eine von Wards und eine von Bakrs Grab. Daraus stellte er zwei Becher her, aus denen er abwechselnd trank, während er, beide Geliebte beweinend, dichtete. So entstand der Vers › meine Tränen rinnen über ihr Gesicht ‹. Das heißt, dass er bereits im Akt des Tötens aus Liebe um sie weinte. Das ist wahre Liebe, mein Schatz.«
    »Das nennst du Liebe?«, sagte Milia.
    »Selbstverständlich.«
    »Das heißt, dass du töten würdest?«
    »Selbstverständlich würde ich töten. Kein Liebender ist nicht bereit zu töten. Na ja, zumindest würde er der Liebsten, die ihn betrügt, den Tod wünschen.«
    »Das heißt, du wärst imstande, mich zu töten?«
    »Das ist doch nur eine Geschichte, Schatz. Die Geschichte von Dîk al-Dschinn. Jeder Mensch ist gezwungen, seine Geschichte zu leben. Dîk al-Dschinn hat Ward getötet, weil die Geschichte es von ihm verlangte. Schließlich ist der Mensch an sich eine Geschichte. Was ist das Leben denn sonst? Wir leben eine Geschichte, von der wir nicht wissen, wer sie geschrieben hat. Deshalb fürchte ich mich vor Romanen. Immer wenn ich einen Roman lese, kommt mir der Autor wie eine Bestie vor. Er setzt seine Figuren tragischen Situationen aus, nur um den Leser zu unterhalten. Ich habe dann immer

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