Als schliefe sie
Die Scherben vermischen sich mit dem Licht. Kaum berührt sie ein Stück Licht, erlischt es, und Blut tritt aus ihrer Haut. Es ist, als tausche sie Lichtstückchen gegen Blut ein. Trotzdem muss sie die Scherben aufheben, denn sie erwartet Mansûr. Mansûr aber kommt nicht. Sie hat Sorge, dass er auf die Scherben tritt und sich verletzt. Sie sammelt die Scherben auf. Das Licht erlischt in ihren Händen, schwarzes Blut. Wunde Hände, darauf die Scherben. Sie sinkt zu Boden, sieht Blut. Erschrocken reißt sie die Augen auf. Sie lag im Bett, das Herz raste, pochte im ganzen Körper. Milia schlug ein Kreuz, beschloss, den Traum zu vergessen, und schloss die Augen erneut.
Am Morgen kehrte Mansûr aus Jaffa heim und weckte sie. Sein Gesicht war seit Amîns Ermordung düster. Barfuß sprang sie aus dem Bett, um Kaffee und Frühstück zu bereiten. Sofort fielen ihr die Scherben wieder ein. Und schon spürte sie etwas in ihre Fußsohle stechen. Sie schaute nach den Pantoffeln unterm Bett. Sie waren von blonden Federn bedeckt. Woher diese kamen, war Milia ein Rätsel. Jedenfalls klopfte sie die Federn ab, zog die Pantoffeln an und ging in die Küche. Sie stellte die Kaffeekanne auf den Herd, griff in den kleinen Holzschrank, um Tassen herauszuholen, und da sah sie es. Zwischen den Kaffeetassen schimmerte das Weinglas. Wie war es da hineingekommen? Im Haus gab es keine Weingläser. Mansûr trank keinen Wein, sondern Arrak. Und sie aus Geselligkeit mit.
Sie fragte Mansûr, was das Glas im Schrank zu suchen habe. Er war im Bad und hörte sie nicht. Mit zitternden Händen nahm sie das Glas und stellte es auf den Tisch. Sie sah Lichtschein und Glassplitter. Der Kaffee auf dem Herd lief über. Sie merkte es nicht, sah nur, wie Mansûr zum Herd eilte und die Flamme ausdrehte. Er stellte die Kanne auf den Tisch und fragte, warum sie so versteinert dastehe.
»Das Glas«, sagte sie.
»Was für ein Glas?«, erwiderte er.
»Auf dem Tisch.«
»Das ist ein Wasserglas«, sagte er und griff danach. Es glitt ihm aus der Hand und zersprang am Boden.
»Du hast es zerbrochen!«, fuhr sie ihn an.
»Nicht so schlimm. Das bringt Glück. Wir haben viele davon.«
»O Gott! Was soll ich nur tun?«, rief sie, bückte sich, hob die Scherben mit bloßen Fingern auf und schnitt sich die Hände dabei blutig.
»Was machst du da?«, brüllte er. »Hol den Besen!«
Kniend sammelte sie alle Scherben auf, legte sie auf ein Tablett und wusch sich die Hände. Dunkelrot lief es ins Spülbecken.
»Blut«, stellte sie fest und geriet ins Wanken. »Halt mich fest! Bitte!«, bat sie, der Ohnmacht nahe.
Mansûr hielt sie fest, führte sie zum Bett, holte Watte und Desinfektionsmittel und reinigte die Wunden.
»Versuch jetzt zu schlafen«, sagte er. »Ich komme gegen Mittag wieder. Keine Sorge. Du brauchst dich nicht ums Essen zu kümmern. Ich bringe etwas von unterwegs mit.«
Als sie aufstand, waren die Scherben vom Tablett verschwunden. In dem Gefühl, eine große Sünde begangen zu haben, brach sie in bittere Tränen aus.
Ohne jede Vorwarnung veränderte sich das Leben von Grund auf. Die Nachricht kam, und kurz darauf fand sich Milia in Jaffa wieder. Sie wolle nicht in dieser Küstenstadt leben, sagte sie. Sie hasse das Haus im Adschami-Viertel, in dem die Witwe mit ihren beiden Kindern und der Schwiegermutter lebte, sagte sie. Meeresrauschen beunruhige sie, sagte sie. Sie sei aus Beirut fortgegangen und wolle nie wieder in die Nähe des Meeres zurück, sagte sie. Vieles sagte sie. Ohne Erfolg.
In der Kirche stand Amîns Sarg aufgebahrt, eingeschlagen in die vierfarbige Fahne. Um den Sarg herum nichts als Tränen und Wut. So etwas hatte Milia noch nie erlebt. Eine Stadt, beherrscht von Wut. Den Menschen standen Angst und Hass regelrecht ins Gesicht geschrieben. Milia sah, wie der Kummer die Mienen verfinsterte. Sah, wie die Stadt in den Tod glitt. Unwillkürlich fürchtete sie um ihren Bauch. Sie fürchtete, das Kind könnte in die gischtenden Wellen fallen und verschlungen werden.
Die Verzweiflung hatte, wie Milia sah, tiefe Furchen in das Gesicht der Schwiegermutter Nadschîba gegraben.
»Du hast ihn umgebracht«, warf sie ihrem Sohn Mansûr vor. Nadschîba meinte nicht, was sie sagte. Trotzdem. Sie hatte es ausgesprochen. Es war, als leihe sie der jungen Witwe ihre Stimme. Asma nämlich gab Mansûr die Schuld am Tod ihres Mannes oder glaubte, Amîn sei an Mansûrs Statt gestorben. Schließlich hatte sie nicht nur alles verloren, sondern musste nun
Weitere Kostenlose Bücher