Als schliefe sie
das Gefühl, in einen endlosen Wortschwall gestoßen zu werden. Habe das Gefühl, jeden Moment aus dem Leben zu fallen und Teil des Buches zu werden. Nein. Poesie ist besser. Bei den Arabern gilt Poesie als die erhabenste der Künste. Denn sie beschreibt, ohne zu erzählen. Im Übrigen flicht man in die Prosa, damit sie lesbar wird, Gedichte ein. Das heißt, dass Poesie Sinn, Inhalt, Gerüst und vieles mehr ist.«
»Das heißt, du würdest wegen der Geschichte töten?«
Nun hat deine Geschichte begonnen, Mansûr, dachte Milia. Denn jede Geschichte beginnt, wie du einmal gesagt hast, mit Mord und Tod. »Man denkt, so deine Worte, dass die Geschichte des Menschen mit seiner Geburt beginnt. Das ist ein Irrtum. Die Geschichte beginnt, wenn wir sterben oder getötet werden.«
Nun war Mansûr in seine Geschichte eingetreten. Am Totenbett. Als die Tränen des einen Bruders über das Gesicht des anderen Bruders rannen.
Mansûr hatte nicht geweint. Wie da also die Geschichte von seinen Tränen auf Amîns Gesicht in Umlauf gekommen war, konnte sich Milia nicht erklären. Sie war dabei gewesen und hatte keine Tränen gesehen. Aber irgendwie muss die Geschichte entstanden sein. Die Sache beunruhige sie, sagte sie zu Mansûr. Sie habe beobachtet, wie er sich völlig veränderte, sagte sie. Er gleiche nun seinem Bruder. Mansûr hatte sich nicht einfach verändert. Nein, er hatte die eigene Person abgelegt und war in ein neues Bild eingetreten. Die Poesie verschwand aus seinem Leben. Ebenso das Glühen in seinem Blick, wenn er das scheue, lustsprühende Gesicht seines weißen Engels betrachtete. Alles war nun verdorrt. Selbst das Eine, von dem Milia nie sprach, selbst jener Brunnen war versiegt. Er näherte sich ihr, wenn sie tief und fest schlief. So spürte sie das Wasser nicht, das aus der in ihr schlummernden Erde sprudelte. Er schien nicht mehr er zu sein.
Aus Jaffa zurückgekehrt, stellte Milia fest, dass er, der Mann, der auf der Flucht vor seiner Geschichte zu ihr nach Beirut gekommen war, nun doch dieser Geschichte, die das Schicksal für ihn vorgesehen hatte, zum Opfer fiel. Am Ende war er unweigerlich von dem Geschichtenjäger eingefangen worden. Amîn war tot. Und Mansûr hatte keine andere Wahl als seinen Traum aufzugeben. Den Traum, Seidenhändler zu werden. »Wer lieben will«, sagt das Sprichwort, »muss mit Seide handeln.« Der ewig Liebende, wie Mansûr sich nannte, der täglich vom Augenwasser seiner Liebsten trank, war in die Welt der Stoffe und nach Beirut geflüchtet, weil er wusste, dass sein von den Propheten heimgesuchtes Land keine Zukunft hatte. Dass sich sein Bruder weit vorgewagt hatte. Dass Jaffa keine Chance hatte. »Ich kenne sie. Wir können nicht gewinnen, habe ich zu Amîn gesagt. Es ginge um die Heimat, antwortete er.« Mansûr wusste, dass Amîn Recht hatte und dass die Schlosserei, die sie vom Vater geerbt hatten, in den Dienst der Stadt gestellt werden musste.
»Das Mindeste, was wir tun können«, hatte Amîn gesagt, »ist, Munition herstellen und Gewehre reparieren. Oder sollen wir etwa zusehen, wie die Juden das Land an sich reißen und uns vertreiben?«
Das war der Grund, weshalb Mansûr fortgegangen war.
»Nein, ich bin nicht feige. Ich mag nur keine Waffen. Ihr habt ja Recht, du und Mutter. Aber ich kann das nicht.«
»Aber wie sollen wir sonst gegen die Engländer und Juden kämpfen? Mit Worten? Müssen wir nicht etwas tun?«
Er sei dazu nicht fähig, hatte er zu Amîn gesagt und sich nach Beirut aufgemacht. Dort hatte er sich in eine Libanesin verliebt. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, in Beirut zu bleiben und zur Ruhe zu kommen, aber festgestellt, dass das unmöglich war. Er eröffnete ein kleines Geschäft in Nazareth. Die Reisen nach Beirut wurden zum Muss, um sich mit neuen Stoffen aus Europa einzudecken. So kam es, dass er am Garten der Schâhîns sein Herz verlor und das für den Anfang hielt.
Der Anfang aber erwartete ihn in Nazareth. Während er dort den Apfel des Lebens betrachtete, wie er den dicken Bauch seiner Frau nannte, erhielt er die Nachricht, die alles auf den Kopf stellte. Sie beendete die Zeit in Nazareth und führte zum Umzug der kleinen Familie nach Jaffa.
»Das ist der Traum«, sagte Milia.
Statt über den Traum zu lächeln, wie er es sonst immer tat, verfinsterte sich seine Miene. »Du verstehst wohl nicht, was vor sich geht!«, fuhr er sie an.
»Das ist der Traum«, wiederholte sie und erinnerte ihn an das Weinglas, das er zerbrochen
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